Sandra Hüller hat es zur „Oscar“-Anwärterin geschafft: Für ihren Part in „Anatomie eines Falls“ konkurriert der deutsche Star um einen der „Academy“-Awards, die am 10.3.2024 vergeben werden. Der meistnominierte Film ist indes Christopher Nolans Physiker-Drama „Oppenheimer“. Und auch „Poor Things“ hat gute Chancen auf Auszeichnungen.
Hollywood hat ein Herz für gebrochene Helden. Nicht unbedingt im Blockbuster-Kino, wo sich glatte Makellosigkeit eher bezahlt macht, durchaus aber dort, wo die US-amerikanischen Filmschaffenden über die besten Leistungen des Jahres abstimmen: In der Geschichte der „Oscars“ haben es Filme über ambivalent gezeichnete Männer (oder, in bislang selteneren Fällen: Frauen) immer wieder geschafft, bei den Mitgliedern der Academy of Motion Picture Arts and Sciences eine Mehrheit für die wichtigsten Preise hinter sich zu bringen, von „Casablanca“ und „Die Brücke am Kwai“ über „Einer flog über das Kuckucksnest“ bis zu „Schindlers Liste“ und „Green Book“. Beste Chancen, diese Tradition fortzusetzen, hat nun Christopher Nolans Filmbiografie des Quantenphysikers J. Robert Oppenheimer. „Oppenheimer“ wurde bei der Bekanntgabe der Nominierungen für die 96. „Academy Awards“ am 23. Januar 2024 insgesamt 13 Mal bedacht und darf als haushoher Favorit für die Preisverleihung am 10. März gelten.
Damit greift der
britisch-amerikanische Filmemacher Christopher Nolan nun nach dem
ersten „Oscar“ seiner Karriere, was neben dem unerwarteten Publikumszuspruch
für sein anspruchsvolles, rasant montiertes Dreistunden-Epos auch seiner
Stellung als einem der konsequentesten Fürsprecher der Kino-Seherfahrung zu
verdanken sein dürfte.
Triumph der großen Leinwanderfahrungen
Sah es einige Jahre lang so aus, als wären Regisseure wie Nolan, die eine Arbeit für Streaming-Dienste dankend ablehnten, bald eine aussterbende Minderheit, lassen sich die „Oscar“-Nominierungen insgesamt als Reaktion auf den Kino-Aufwind und die Streaming-Flaute lesen. Lediglich Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“, der als Produktion für AppleTV+ entstand (allerdings eine beachtlich lange Kino-Auswertung erfuhr), und Bradley Coopers Leonard-Bernstein-Biografie „Maestro“ für Netflix haben sich von Streaming-Seite für die Nominierung als „Bester Film“ platzieren können.
Ansonsten aber dominieren die buchstäblichen „großen Leinwanderfahrungen“: Die bildgewaltige Frankenstein-Variante „Poor Things“ wurde ebenso nominiert wie die verspielte feministische Puppenfabel „Barbie“, die herausfordernden Cannes-Premieren „Anatomie eines Falls“ und „The Zone of Interest“ und die sensible Romanze „Past Lives“. Komplettiert wird die Riege der zehn besten Filme des Jahres von der satirischen Komödie „American Fiction“ und der tragikomischen Freundschaftsgeschichte „The Holdovers“.
Zahlenmäßig liegen
dicht hinter dem 13-fach nominierten „Oppenheimer“ „Poor Things“ mit 11 und
„Killers of the Flower Moon“ mit 10 Nennungen, gefolgt von „Barbie“ mit 8 sowie
„Maestro“ mit 7 Nominierungen. Diese dürften auch die größten Konkurrenten für
Nolans Film sein, wobei „Poor Things“ und „Barbie“ dafür noch einiges an Boden
gutmachen müssten. Schlechter sieht es für die Chancen von „Killers of the
Flower Moon“ aus. Der 81-jährige Martin Scorsese, der mit seinem
dreieinhalbstündigen Drama den Genozid an Amerikas indigener Bevölkerung
thematisiert hatte, hatte zwar nach etlichen Kritikerpreisen als Mitfavorit
gelten können und wurde erwartungsgemäß auch zum zehnten Mal als Regisseur
nominiert.
Keine Nominierung gab es jedoch für das von ihm mitverfasste Drehbuch des Films, was sich in den letzten Jahrzehnten als wichtigste Beigabe für den „Oscar“ erwiesen hat – der letzte Film, der ohne Drehbuch-Nominierung bei den „Oscars“ triumphierte, war „Titanic“ vor 26 Jahren. „Barbie“ hingegen könnte als Kino-Phänomen des letzten Jahres auch bei den Academy-Mitgliedern noch punkten, auch wenn Greta Gerwig eine Nominierung als beste Regisseurin verpasste. Den Vortritt lassen musste sie neben Nolan und Scorsese auch dem griechischen „Poor Things“-Regisseur Yorgos Lanthimos, dem Briten Jonathan Glazer für sein forderndes Drama „The Zone of Interest“ über den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß und der Französin Justine Triet für ihr vielschichtiges Beziehungs- und Gerichtsdrama „Anatomie eines Falls“.
Sandra Hüller versus Lily Gladstone
Dank ihrer
glänzenden Rollen sowohl bei Glazer als auch bei Triet darf sich erstmals seit
1938 (!) wieder eine deutsche Schauspielerin Hoffnung auf den Goldjungen
machen. Sandra Hüller wurde für ihre Rolle als Mordverdächtige in
„Anatomie eines Falls“ als Hauptdarstellerin nominiert und tritt gegen die
Favoritin Lily Gladstone, die es als erste „Native American“ der
Historie in diese Kategorie schaffte, sowie Emma Stone, Carey Mulligan und die zum fünften Mal nominierte Annette Bening
an. Ebenfalls zum fünften Mal in die „Oscar“-Auswahl geschafft hat es Benings
„Nyad“-Partnerin Jodie Foster bei den Nebendarstellerinnen, wo
sie vor 47 Jahren mit ihrer ersten Nominierung für „Taxi Driver“ ihren
Durchbruch feierte. Durchaus passend wurde auch ihr damaliger Filmpartner Robert De Niro 2024 einmal mehr nominiert – wobei zwischen seinem ersten
„Oscar“-Aufschlag mit „Der Pate – Teil II“ und seiner jetzigen, achten Nominierung
als mörderischer Patriarch in „Killers of the Flower Moon“ sogar 49 Jahre
liegen.
Jodie Foster tritt gegen die erstmals nominierten Kolleginnen Emily Blunt, Danielle Brooks, America Ferrera und Da’Vine Joy Randolph an, wobei letzterer der Preis für ihren Auftritt als Köchin und trauernde Mutter in „The Holdovers“ kaum zu nehmen sein dürfte. Etwas offener sieht es bei den Nebendarstellern aus, wo neben De Niro auch Robert Downey jr. als Oppenheimers politischer Gegenspieler Lewis Strauss, Ryan Goslings köstlicher Ken-Auftritt aus „Barbie“ und Mark Ruffalos selbstverliebter Anwalt aus „Poor Things“ Chancen haben. Abgerundet wird die Kategorie durch die erste „Oscar“-Berücksichtigung für den Fernsehstar Sterling K. Brown in „American Fiction“.
Erstmals nominiert: Jeffrey Wright & Cillian Murphy
Neben Brown ist für „American Fiction“ auch Hauptdarsteller Jeffrey Wright nominiert – die überfällige erste Nominierung für einen der vielseitigsten US-Darsteller der letzten drei Jahrzehnte. Wrights Konkurrenten sind der irische „Oppenheimer“-Star Cillian Murphy (auch er zum ersten Mal nominiert), der zum fünften Mal nominierte Bradley Cooper für seine zweite Regie-Arbeit „Maestro“ und Paul Giamatti für seinen Traumauftritt als ausgegrenzter Lehrer in „The Holdovers“ sein. Eher Außenseiter auf den Gewinn dürfte der fünfte Nominierte Colman Domingo für „Rustin“ sein, in dem der Theaterdarsteller als Aktivist Bayard Rustin geglänzt hatte.
Erfreulich aus deutscher Sicht ist neben der Nominierung für Sandra Hüller auch der Blick auf die Kategorie „Internationaler Film“, wo man je nach Perspektive zwei bis drei deutsche Nominierte ausmachen kann. Neben „The Zone of Interest“, zwar als amerikanisch-britisch-polnische Koproduktion entstanden, aber auf Deutsch gedreht, schafften es auch Ilker Çataks „Das Lehrerzimmer“ sowie Wim Wenders’ Studie eines japanischen Toilettenreinigers, „Perfect Days“, unter die letzten fünf. Auch die beiden übrigen Einreichungen stammen aus Ländern, die dort generell oft auftauchen: Italien („Io Capitano“) und Spanien („Die Schneegesellschaft“). Der ewige „Auslandsoscar“-Favorit Frankreich ging dort zwar dieses Jahr leer aus – nicht zuletzt, weil das dortige Auswahlkomitee „Anatomie eines Falls“ nicht ins Rennen geschickt hatte –, darf sich mit den insgesamt fünf Nominierungen für Justine Triets Film aber entschädigt fühlen.
Wenig Überraschungen
Insgesamt orientiert sich die „Oscar“-Auswahl größtenteils an den Vorgaben der bisherigen „Awards Season“. Die zehn jetzt nominierten Filme waren auch bei anderen Preisen wie den „Golden Globes“, den „AFI Awards“ und den „Critics Choice Awards“ schon zuverlässig immer wieder aufgetaucht, Ähnliches lässt sich über die Regie-, Drehbuch- und Schauspiel-Nominierten sagen. Dementsprechend nicht wundern muss man sich über Filme, die ihre Rolle als Mitfavoriten im Laufe der letzten Wochen verloren und nun auch bei den „Oscars“ nicht auftauchen, insbesondere das Quintett „Ferrari“, „The Killer“, „Priscilla“, „Memory“ und „Origin“, das seine allesamt überwiegend positiven Aufnahmen beim Filmfestival in Venedig 2023 nicht in US-Filmpreis-Anerkennung zu verwandeln verstand. Stattdessen haben die „Oscar“-Juroren auch in den Gewerken nur wenige echte Überraschungen zugelassen, selbst weniger erwartete Nennungen wie „El Conde“ (Kamera) oder „Flamin’ Hot“ (Filmsong) sind letztlich leicht mit dem großen Ansehen der Nominierten Edward Lachman respektive Diane Warren in ihren jeweiligen Branchen zu erklären.
Seine eigenen Rekorde als meistnominierter lebender und ältester je nominierter Künstler hat derweil der 91-jährige John Williams mit seiner 54. Berücksichtigung (für die Musik von „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“) gebrochen. Es ist einer der wenigen Plätze, den das Blockbuster-Kino sich bei den 96. „Oscars“ erobern konnte, neben der Spezialeffekte-Nennung für „Guardians of the Galaxy Vol. 3“ und den beiden ersten Nominierungen in der Geschichte der „Mission: Impossible“-Reihe für den siebten Teil „Mission: Impossible - Dead Reckoning Teil Eins“ (Ton und Spezialeffekte). Eine späte Anerkennung für ein immerhin seit 1996 mit technischer Brillanz und Originalität daherkommendes Franchise, das sich nun vielleicht endlich auch bei den „Oscars“ auszahlt.
Was man auch Wes Anderson wünschen kann, der mit seinen verspielten Werken bei den Filmpreisen bislang immer außen vor blieb, nun aber mit seiner Roald-Dahl-Adaption „The Wonderful Story of Henry Sugar“ bei den besten Kurzfilmen antritt. Es wäre eine schöne Gelegenheit, bei allem Jubel über „Oppenheimer“, „Poor Things“, „Barbie“ und co. auch die vermeintlich kleineren Kategorien angemessen zu feiern.
Alle „Oscar“-Nominierungen in der Übersicht
Bester Film
„Barbie“
„Maestro“
Bester Regie
Justine Triet für „Anatomie eines Falls“
Martin Scorsese für „Killers of the Flower Moon“
Christopher Nolan für „Oppenheimer“
Yorgos Lanthimos für „Poor Things“
Jonathan Glazer für „The Zone of Interest“
Bester Hauptdarsteller
Bradley Cooper in „Maestro“
Colman Domingo in „Rustin“
Paul Giamatti in „The Holdovers“
Cillian Murphy in „Oppenheimer"
Jeffrey Wright in „American Fiction“
Beste Hauptdarstellerin
Annette Bening in „Nyad“
Lily Gladstone in „Killers of the Flower Moon“
Sandra Hüller in „Anatomie eines Falls"
Carey Mulligan in „Maestro“
Bester Nebendarsteller
Sterling K. Brown in „American Fiction“
Robert De Niro in „Killers of the Flower Moon“
Robert Downey jr. in „Oppenheimer“
Ryan Gosling in „Barbie“
Beste Nebendarstellerin
Emily Blunt in „Oppenheimer“
Danielle Brooks in „Die Farbe Lila“
America Ferrera in „Barbie“
Jodie Foster in „Nyad“
Da’Vine Joy Randolph in „The Holdovers“
Bestes Originaldrehbuch
Justine Triet für „Anatomie eines Falls“
David Hemingson für „The Holdovers"
Bradley Cooper, Josh Singer für „Maestro“
Samy Burch, Alex Mechanik für „May December“
Celine Song für „Past Lives“
Bestes adaptiertes Drehbuch
Cord Jefferson für „American Fiction“
Greta Gerwig, Noah Baumbach für „Barbie“
Christopher Nolan für „Oppenheimer“
Tony McNamara für „Poor Things“
Jonathan Glazer für „The Zone of Interest“
Beste Kamera
Edward Lachman für „El Conde“
Rodrigo Prieto für „Killers of the Flower Moon“
Matthew Libatique für „Maestro“
Hoyte van Hoytema für „Oppenheimerr“
Robbie Ryan für „Poor Things“
Bestes Productiondesign
Sarah Greenwood, Katie Spencer für „Barbie“
Jack Fisk, Adam Willis für „Killers of the Flower Moon“
Arthur Max, Elli Griff für „Napoleon“
Ruth De Jong, Claire Kaufman für „Oppenheimer“
James Price, Shona Heath, Zsuzsa Mihalek für „Poor Things“
Beste Kostüme
Jacqueline Durran für „Barbie“
Jacqueline West für „Killers of the Flower Moon“
Janty Yates und Dave Crossman für „Napoleon“
Ellen Mirojnick für „Oppenheimer“
Holly Waddington für „Poor Things“
Bester Schnitt
Laurent Sénéchal für „Anatomie eines Falls“
Kevin Tent für „The Holdovers“
Thelma Schoonmaker für „Killers of the Flower Moon“
Jennifer Lame für „Oppenheimer“
Yorgos Mavropsaridis für „Poor Things“
Beste Musik
Laura Karpman für „American Fiction“
John Williams für „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“
Robbie Robertson für „Killers of the Flower Moon“
Ludwig Göransson für „Oppenheimer“
Jerskin Fendrix für „Poor Things“
Bester Originalsong
„The Fire Inside“ in „Flamin‘ Hot“
„I’m Just Ken“ in „Barbie“
„It Never Went Away“ in „American Symphony“
„Wahzhazhe (A Song for my People)“ in „Killers of the Flower Moon
„What Was I Made For?“ in „Barbie“
Bester Ton
„Maestro“
„Mission: Impossible – Dead Reckoning Teil Eins“
Beste Spezialeffekte
„Guardians of the Galaxy Vol. 3“
„Mission: Impossible – Dead Reckoning Teil Eins“
„Napoleon“
Bestes Make-up und Frisuren
„Golda“
„Maestro“
Bester Animationsfilm
„Der Junge und der Reiher“ von Hayao Miyazaki
„Elemental“ von Peter Sohn
„Nimona“ von Nick Bruno
„Robot Dreams“ von Pablo Berger
„Spider-Man: Across the Spider-Verse“ von Kemp Powers
Bester animierter Kurzfilm
"Letter to a Pig“
„Ninety-Five Senses“
„Our Uniform“
„Pachyderme“
„War is over! Inspired by the Music of John & Yoko“
Bester Real-Kurzfilm
„The After“
„Invincible“
„Knight of Fortune“
„Red, White and Blue“
„The Wonderful Story of Henry Sugar“
Bester Dokumentarfilm
„Bobi Wine: The People’s President“
„The Eternal Memory“
„To Kill a Tiger“
„20 Days in Mariupol“
Bester Kurz-Dokumentarfilm
„The ABCs of Book Banning“
„The Barber of Little Rock“
„Island in Between“
„The Last Repair Shop“
„Nǎi Nai & Wài Pó“
Bester internationaler Film