Der aus dem Iran stammende Regisseur Sohrab Shahid Saless war eine singuläre Gestalt im deutschen Filmschaffen, weil er nicht nur die Migrationserfahrung miteinbrachte, sondern sich in seinem Kunstschaffen stark an dem Schriftsteller Anton Tschechow orientierte. In einem voluminösen dreibändigen Werk setzt ihm der Germanist Behrang Samsami jetzt ein Denkmal, das viele Texte, Gespräche, Statements und Briefe des rastlosen Künstlers versammelt.
Die Veröffentlichung der dreibändigen, insgesamt knapp 1500 Seiten schweren Annäherung an Sohrab Shahid Saless (1944-1998) im Exil Verlag, „Die langen Ferien des Sohrab Shahid Saless“, ist das filmpublizistische Glanzlicht des Jahres. Für sämtliche Texte und Gespräche sowie die Veröffentlichung einiger Briefe und Statements des lange Zeit vernachlässigten Schwergewichts des iranischen wie auch des deutschen Films zeichnet Behrang Samsami verantwortlich. Der im Iran gebürtige Germanist fächert Leben und Werk des umtriebigen, beständig gegen bürokratische, politische und kulturelle Mauern anrennenden Filmemachers in sich überlappenden Perspektiven auf.
Der
erste Band widmet sich der Lebensgeschichte des 1974 aus dem Iran zunächst nach
Österreich, später nach Deutschland, Frankreich und die damalige
Tschechoslowakei emigrierten Shahid-Saless (so die eigentliche Schreibweise,
wie man aus den Büchern erfährt). Der zweite Band analysiert die wichtigsten
Filme von „Ein einfaches Ereignis“ (1974) bis zu „Rosen für Afrika“, den er zu Beginn der 1990er-Jahre realisierte. Der dritte Band
beinhaltet sowohl Gespräche mit Mitarbeiter:innen und Freund:innen wie auch
persönliche Dokumente des Filmemachers, darunter Korrespondenzen, Liebesbriefe
und Texte. Viele Zitate aus den Gesprächen und Texten finden sich schon in den ersten
beiden Bänden.
Der dritte Band dient damit auch der aufschlussreichen Offenlegung der Quellen und der Recherche des Autors. Das ist ziemlich ungewöhnlich, enthält aber einen so reichen Fundus, dass man die drei Bände für lange Zeit als Standardwerke für jedwede Arbeit rund um das Werk von Shahid Saless nutzen wird.
Fremd sein und fremd bleiben
Der Titel dieser umfassenden Publikation lautet „Die langen Ferien des Sohrab Shahid Saless“. Damit wird auf „Die langen Ferien der Lotte Eisner“ angespielt, einer Fernsehproduktion über die große Filmpublizistin, die Shahid Saless 1978 für den WDR produzierte. Die Ferien sind allerdings sarkastisch gemeint: sie sollten für den ewig Heimatlosen nie enden. Der Schweizer Filmemacher Fredi M. Murer behauptete einmal, dass er am liebsten ein Fremder sein und bleiben würde. Nicht ankommen, am Rand bleiben. Eine Perspektive, die Kunstschaffende immer wieder suchen. Aus ihr resultiert in den Büchern einen ihrer beiden Hauptstränge, der die Migrationserfahrung als konstanten Zustand begreifbar macht und sich durch die Filme zieht, die der Bundesrepublik immer wieder einen Spiegel vorhielten. Frei nach Paul Celan könnte man Shahid Saless einen Eingefremdeten nennen, einen der überall und nirgends war, eben dort, wo die besten Filme entstehen. Für ihn, so schreibt Samsami, wäre das Filmemachen eine Überlebensstrategie gewesen.
Es ist aber ein großer Unterschied, ob ein solches Schicksal selbst gewählt ist oder äußerem Druck entspringt. Trotzdem bekommt man bei der Lektüre den Eindruck, dass die rastlose Existenz die einzig mögliche für Shahid Saless gewesen ist. Besonders das Gespräch mit seiner ehemaligen Lebenspartnerin Helga Houzer gibt Aufschluss über die Dämonen, die ihn heimsuchten, der einen so streng und abwesend von den drei Buchcovern anstarrt. „Er war ein empfindsamer, stolzer und düsterer Mensch“, sagt Houzer, die an einigen Drehbüchern mit ihm zusammenarbeitete. Später verdächtigte er sie, für den iranischen Geheimdienst Savak zu spionieren.
Ob es immer so interessant ist, in den privaten Archiven verstorbener Künstler zu wühlen, sei dahingestellt. Die handschriftlich abgedruckten Quellen sind jedenfalls spannende, weil auch haptisch nachvollziehbare Dokumente.
Ein Segen und Fluch zugleich
Manchmal
macht es sich Behrang Samsami aber zu leicht mit seinen
Rückschlüssen vom Privatleben auf die Filme, zumal er ein etwas veraltetes Bild
des alles kontrollierenden Auteurs bedient. So deutet er „Tagebuch eines Liebenden“, „Ordnung“, „In der Fremde“ und „Reifezeit“
als Filme, die auch dem Beziehungsleben des Filmemachers entwachsen. Die
Durchsetzungskraft des Filmemachers wird zu einem wiederholten Motiv. Mal setzt
er sich über alle Widerstände hinweg, mal übt er Macht aus, mal zerschellt er
an den Systemen, die ihn nicht so Filme machen lassen, wie er müsste. Man
merkt, dass Samsami nicht aus der Filmwelt kommt, was Segen und Fluch zugleich
für ein solches Buchprojekt ist. Fluch, weil gerade die Filmanalysen in ihren
Referenzen und ihrer wissenschaftlichen Korrektheit etwas arg systematisch
daherkommen. Segen, weil die üblichen Kurzschlüsse filmspezifischen Denkens
ausbleiben.
Besonders produktiv ist, dass wiederholt spannende Querverweise zwischen den Filmen eröffnet werden, etwa wenn von Samsami „In der Fremde“ und „Empfänger unbekannt“ als unterschiedliche Annäherungen an „Gastarbeiter“ enggeführt werden.
Der zweite Hauptstrang der Bücher hangelt sich entlang von Shahid Saless’ größtem Vorbild, dem russischen Schriftsteller Anton Tschechow, über den er 1981 den Film „Anton P. Cechov - Ein Leben“ drehte. Tschechow dient als Interpretationsschlüssel für manchen Film, als Erklärung für Lebensentscheidungen, als Beispiel für ein Ideal der Kunst.
Das Spannende an dieser fast penetranten literarischen Referenz ist, dass sie das Schaffen des Filmemachers aus den üblichen, vor allem in Deutschland allzu überbetonten kulturspezifischen Gegebenheiten auf eine universale Ebene erhebt. Was Saless in seinem Verhältnis zu Tschechow offenbart, sind die Schärfe einer Analyse, die Kühle als der heute alles dominierenden Idee von Empathie gegenübergestellter Wert, die Genauigkeit einer Milieubeschreibung und der Humor im Abgrund. Wenn man die Werke migrantischer Filmschaffender endlich einmal ohne die durchgehende Betonung ihrer Herkunft, sondern anhand der Qualität ihrer Arbeit rezipieren will, sind solche Ansätze dringend notwendig.
Keine Idee vom Kino als Kunst
Nichtsdestotrotz spiegeln die drei Bände auch die Mechanismen der deutschen Film- und Fernsehlandschaft in den 1970er- und 1980er-Jahre. Insbesondere aus Sicht eines Transnationalen, der mit einem unausgesprochenen Rassismus konfrontiert wurde. Dieses aus heutiger Sicht zunächst geradezu paradiesisch anmutende System beginnt sich im Lauf der Karriere von Shahid Saless selbst abzuschaffen. In seiner mitreißenden Streitschrift „J’accuse. Notizen im Exil“ holt der Regisseur zu einem Rundumschlag aus, der bis in die Gegenwart nachhallt. Shahid Saless schreibt von seiner Wahrnehmung als „ausländischer“ Regisseur, von einer fehlenden Idee der Kunstform Kino in den Redaktionen und davon, wie die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und dem Iran die Rezeption seiner Filme negativ beeinflussten. Sein Text berichtet von einer Filmkultur, die das Unbequeme abweist, das, was sich nicht in Schubladen schieben lässt, vor allem, wenn es von einem Nicht-Deutschen kommt. Er klagt das Fördersystem an und dass die Entscheidungen über die zu verfilmenden Stoffe bei den Redakteuren liegen und nicht bei den Filmschaffenden. „Wir brauchen neue Formen. Gibt es diese nicht, dann brauchen wir nichts.“
Was es gibt, das sind die Filme dieses außergewöhnlichen Regisseurs. Dass die wieder und weiter gezeigt und gesehen werden, ist dringend notwendig und liegt auch an Initiativen wie dieser Publikation.
Literaturhinweis
Die langen Ferien des Sohrab Shahid Saless. Von Behrang Samsami. Exil Verlag Frankfurt 2023. 3 Bände, 1500 Seiten, zahlreiche Abbildungen. 99 EUR. Bezug: In jeder Buchhandlung oder hier.