© Concorde (aus „Das Kabinett des Dr. Parnassus“)

Die Zukunft des Kinos (IV): Spielen, spielen um jeden Preis

Kracauer-Stipendium „Die Zukunft des Kinos“ - Zum mobilen Genre des Wanderbühnenfilms (Teil 2)

Veröffentlicht am
01. September 2023
Diskussion

Mit ihrer agilen Aufführungspraxis begeistern Kino- und Theater-Wanderbühnen ihr Publikum heute mehr denn je. Was lässt sich aus dieser überraschenden Resilienz für innovative Kinoformen und ihre Bedeutung für die Filmkunst lernen? Ein Blick in sechs Teilen, der im Rahmen der Siegfried-Kracauer-Essays in der Vergangenheit des Kinos nach seiner Zukunft fahndet. Der vierte Teil richtet den Blick noch einmal auf das Genre des Wanderbühnenfilms, das in Werken wie „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ mit seinem magischen Realismus als Metapher für das Kinoerlebnis schlechthin fasziniert.


Bei der Wanderbühne gilt seit jeher, was auch immer schon Durchhalteparole für das Kino war: In der Welt zuhause und allen Widrigkeiten zum Trotz! Die Wanderkinos und Wanderbühnen sind entgegen vieler Erwartungen aus unserer modernen Welt nie ganz verschwunden. Im Gegenteil: Durch ihre gegenseitige Durchdringung und filmische Transformation bleiben sie als Projektionsfläche weiterhin höchst lebendig und liefern neue Erkenntnisse darüber, wie und warum uns Kino und Film auch in Zukunft noch begegnen können. Innerhalb eines quasi „mobilen Genres“ sind Wanderbühnen-Filme fester Bestandteil der Filmgeschichte geworden und haben uns viel über uns und unsere Gesellschaft zu erzählen. Neben der dunklen Gesellschafts- und Eigenkritik (siehe Essay Teil 3) setzen vor allem der poetische und magische Realismus, das Märchen- und Mysterienspiel, das absurde Drama oder die Abenteuerfilme mit tröstenden und verzaubernden Momenten die ambulanten Bühnen in Szene. Ein phänotypischer Film wie „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ (2009) von Terry Gilliam transformiert dabei die Wanderbühne zur Wunderbühne, die zu den ureigenen Fragen nach dem Sinn des Lebens und dem Streben des Menschen vordringt und damit zur idealisierenden Metapher für das Kinoerlebnis schlechthin wird.

Die enge Verwobenheit der Aufführungspraxis der Wanderbühne mit der des Wanderkinos (siehe Essay Teil 1), ihren Schauspieler:innen (siehe Essay Teil 2) und ihren erzählten Geschichten im Film (siehe Essay Teil 3) haben das hervorgebracht, was einer Kunstform allein nicht gelingt: Eine hybride Erlebniswelt zu erschaffen, die sich zwischen den etablierten Polen der sesshaften Kinos und der Stadttheater spannungsvoll entfaltet. Sowohl in den Drehbüchern als auch in der Realität kommen diese agilen Wanderbühnen genau dorthin, wo sich ihr Publikum befindet. Die mobile Bühne sorgt für unmittelbaren künstlerischen Austausch und den Blick auf das „Dazwischen“. Ihre Perspektive auf unsere Gesellschaft ist von Direktheit und Authentizität geprägt, allen Krisen und Wetterlagen zum Trotz. Die ambulanten Bühnen und Akteure schaffen es dabei, mit ihren Botschaften ganz nah an die Menschen heranzukommen, sei es räumlich oder emotional, sei es als Beobachter oder als Beobachtete, sei es real oder auf der Leinwand. Und hier lohnt ein weiterer Blick auf den Wanderbühnen-Film und seine verbindenden Motive, die quer durch die Genres Lust auf bewegtes wie bewegendes Kino machen und im zweiten Teil weiter beleuchtet werden:


Das Motiv der Wanderbühne als Wunderbühne

Ästhetisch erinnern die Filme des magischen Realismus an die fantastischen Bildexperimente der Kinovorläufer Mitte des 19. Jahrhunderts sowie die frühen Feen- und Zaubereifilme von Georges Méliès und Alice Guy-Blaché im Übergang zum 20. Jahrhundert. In den Filmen von Terry Gilliam wie Die Abenteuer des Baron Münchhausen“ (1988) und Das Kabinett des Dr. Parnassus (2009) wird geradezu ein Feuerwerk an Farben, Kostümen und Ausstattung abgefeuert, um das Publikum auf Fantasiereise zu schicken. In „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ ist es das Dionysisch-Rauschhafte, das vom antiquierten Bühnen-Wagen ausgeht. Sobald das Publikum den (Zerr-)Spiegel in der Kulisse durchquert, verliert es sein Gesicht, gerät in orgiastische Verzückung oder explodiert sogar, weil es sich mit seinen innersten Wünschen und (Alb-)Träumen begegnet.

Wundersame Theater-Illusionen wie in „Die Reise des Capitan Fracassa“ prägen die Wanderbühnenfilme (© IMAGO / United Archives)
Wundersame Theater-Illusionen wie in „Die Reise des Capitan Fracassa“ prägen die Wanderbühnenfilme (© IMAGO / United Archives)

„Was wir tun, ist todernst“, sagt Dr. Parnassus, der 1000 Jahre alt ist. Die Wanderbühne hat ihre eigene Wirklichkeit, ihr eigenes System, ihren eigenen Organismus. Nicht umsonst ist bei Parnassus die fahrende Bühne eine vollautomatisierte Einheit, wie eine Burg mit Zugbrücke ausgestattet und zusammenklappbar wie eine Auster. Denn die wehrhafte Wanderbühne unterliegt ihren eigenen Gesetzen – eine Heterotopie, jenseits von Raum und Zeit, frei von Regeln der Obrigkeiten und stark gegen Feinde wie in „Die fantastische Welt von Oz“ (2013) von Sam Raimi, in dem der „Zauberer“ Oz sein Königreich durch seine übermenschlichen Projektionen von Hexen befreit und unsterblich wird. Das Ensemble besteht meist aus der eigenen Familie oder wird zu ihrem schicksalhaften Ersatz mit ähnlich starker Bindung. Inszeniert wird vielfach eine resiliente Truppe, die am Ende als Sieger hervorgeht wie in „Freaks“ (1932) von Tod Browning, wenn die durchtriebene Cleopatra unter „ungeklärten Umständen“ selbst als Freak im Panoptikum landet.

Auffällig oft gibt es dabei eine dominante ältere Vater-Figur, die Chef der Wanderbühne ist. Ob in einer realen Vater-Tochter-Beziehung wie in „Parnassus“, „The Matinee Idol“ (1928) von Frank Capra oder dem Schweizer Heimatfilm „Menschen, die vorüberziehen“ (1942) von Max Haufler. Oder als väterlicher (scheiternder) Liebhaber wie in „La Strada – Das Lied der Straße“ (1954) von Federico Fellini, „Varieté (1925) von Ewald André Dupont, Abend der Gaukler“ (1953) von Ingmar Bergman oder „Abschied in der Dämmerung (1959) von Yasujirô Ozu – der Direktor und das Drama gehen Hand in Hand.


Das Motiv der (Zu-)Flucht und des Flüchtigen

Die Wanderbühne fungiert zudem signifikant oft als Rückzugsort vor Krieg und Konflikten für gesellschaftlich Verfolgte und Andersartige, denen das Ensemble mit seinen Masken rettenden Unterschlupf bietet und sie emotional auffängt. Doch nie für lange: Denn das Flüchtige in der Beziehung zu den Menschen, denen die Schausteller:innen begegnen, bevor sie wieder zu unbekanntem Ziel aufbrechen, kennzeichnet ebenso viele der Wanderbühnen-Filme. In „Das siebente Siegel“ (1957) von Ingmar Bergman spielt Ritter Block (Max von Sydow) mit dem Tod Schach und sucht dabei Zuflucht vor der grassierenden Pest auf dem Pferdewagen der Wanderschausteller:innen Jof (Nils Poppe) und Mia (Bibi Andersson), bei denen er bei wilden Erdbeeren und Milch ein letztes Mal das Leben in sich spürt. Der Tod (Bengt Ekerot) holt am Ende in einem ikonischen Prozessionen-Tanz die Todgeweihten zu sich und lässt nur die junge Schausteller:innenfamilie als Verkörperung von Maria und Josef mit ihrem Sohn mit ihrer Kutsche in den Sonnenaufgang ziehen.

„Das siebente Siegel“: Schachspiel mit dem Tod, im Hintergrund die fahrenden Gaukler (© IMAGO / Allstar)
„Das siebente Siegel“: Schachspiel mit dem Tod, im Hintergrund die fahrenden Gaukler (© IMAGO / Allstar)

Besonders die Kinder und jungen Menschen symbolisieren im Ensemble als stille Beobachter die Heilung und Unsterblichkeit, die eng an das Reich der Fantasie geknüpft sind. Sie lassen an das junge Publikum der ersten Wanderkinos erinnern, die das Medium erst groß machten. Die Wanderbühne wird zum psychologischen Traumspiel gegen das Trauma ihrer Generation. In dem tschechischen Jugendfilm „Ich will nichts hören“ (1978) von Ota Koval findet ein Junge durch eine studentische Wanderbühnen-Truppe seine Sprache wieder, die er nach dem tödlichen Autounfall seiner Eltern verloren zu haben scheint. Das gleiche Motiv des traumatisierten Kindes greift ganz aktuell auch die tschechische Groteske „A Sensitive Person“ (2023) von Tomáš Klein auf, die auf dem Roman „Ein empfindsamer Mensch“ von Jáchym Topol beruht. Hier erfährt der ebenfalls stumme Sohn eines heruntergekommenen Wanderschauspielers auf einer surrealen Tour-de-Force durch ein gewaltsames Land zusammen mit seinem Vater Katharsis.

Auch im DEFA-Film Fariaho von Roland Gräf (1983) kämpft ein alternder fahrender Puppenspieler gegen sein Trauma nach dem Mord seines Spielpartners durch die Nazis. Die prekäre, auch in der DDR ungeliebte Puppenspiel-Tour gerät zur erfolgreichen Sinnsuche des verbitterten Individualisten und der zwei jungen Puppenspieler, die sich ihm anschließen, und am Ende ihren jeweils eigenen Wege in die Welt finden.

Romantisch und grenzüberschreitend wird die Wanderbühne wiederum, wenn sie Erkenntnis und Wahrheit in Natur und Wald sucht wie in dem von Tom Stoppard 1967 geschriebenen und 1990 von ihm verfilmten absurden Drama Rosenkranz & Güldenstern“. Die Wanderbühnen-Welt gerät zum absurden Theater und zur elisabethanischen Tragödie zugleich. Das Genre findet in dieser Form zu ganz neuen Perspektiven, weil Dramatiker:innen ihre Wanderbühnen-Geschichte selbst reflektieren oder kunstvoll reflektiert werden wie in „Molière“ (1978) von Ariane Mnouchkine: Spielen, spielen um jeden Preis, auch wenn die Bühne im Sturm bis kurz vor den Abgrund fliegt. Besonders die komödiantische Maske der Commedia dell’Arte bietet den Held:innen der Abenteuer- und Historienfilme Schutz auf dem Karnevalskarren, von dem aus sie die vornehmen Bühnen der Adelshäuser entern. So wird der Klassenkampf in dem Mantel- und Degenfilm „Scaramouche“ (1923) von Rex Ingram und dem Technicolor-Remake (1952) von George Sidney vor dem Hintergrund der Französischen Revolution ausgefochten. Wie in „Scaramouche“ schließt sich auch in der erstmals 1915 und danach vielfach verfilmten Geschichte „Kapitän Fracasse“ von dem Romancier Théophile Gautier ein Edelmann einer Wanderbühne an und erkämpft sich mit seinem neuen titelgebenden Bühnennamen ein Stück Klassengerechtigkeit. Und mit dem großen Kampf kommt auch die große Liebe ins Spiel, bei „Fracasse“ verkörpert durch Isabella, die Tugendhafte unter den Figuren der Commedia dell'Arte.

„Rosenkranz & Güldenstern“ verbindet absurdes Theater und elisabethanische Tragödie (© IMAGO / Ronald Grant)
„Rosenkranz & Güldenstern“ verbindet absurdes Theater und elisabethanische Tragödie (© IMAGO / Ronald Grant)

In „Die goldene Karosse“ (1952) von Jean Renoir gerät die Wanderbühne sogar zur goldenen Kutsche als Symbol für den Traum vom sorglosen höfischen Leben, gegen das sich die fahrende Komödiantin Camilla (Anna Magnani) am Ende zugunsten ihres freien Künstlerlebens entscheidet: „Die Welt ist unser Heim, lasst uns weiterziehen.“ Ähnlich wie in „Die Reise des Capitan Fracassa“ (1990) von Ettore Scola ist es auch hier ein ästhetisches Spiel mit dem gesellschaftspolitischen Ernst, bei dem die Illusion mehrfach gebrochen und die Bühne als Bühne offensichtlich wird. König, Kirche und Krieg sind wirkmächtige institutionalisierte Inszenierungen, gegen die auch das Theater nicht anspielen kann und die ein wiederkehrendes Thema in vielen Filmen bilden. Was meist bleibt, ist die Flucht aus dem goldenen Käfig.

Diese nicht einlösbare Utopie des Friedens auf der Bühne der Vertriebenen treibt Theodoros Angelopoulos in „Die Wanderschauspieler“ (1975) auf die Spitze. Anhand einer durch Raum und Zeit wandernden Schauspieltruppe verhandelt er in einer vierstündigen Versuchsanordnung die eigene Positionierung gegenüber der Dysfunktionalität der griechischen Gesellschaft, ihren Traumata und ihrer Verantwortung im Zweiten Weltkrieg gegenüber Selbstjustiz, politischen Verbrechen oder Vergewaltigung. In „Leben und Tod einer Pornobande“ (2009) von Mladen Djordjevic entblößt sich dieses schwierige Verhältnis von Kunst und Krieg und wird zur nackten Wahrheit auf dem Land, durch das das „erste serbische Porno-Kabarett“ mit seinen Outsidern tourt. Ihr dargebotener riesenhafter Phallus wird zum Symbol für einen orgiastischen Dionysoskult. Erotik und Demütigung werden hochstilisiert zur Perversion und Bigotterie einer kriegsgebeutelten, animalischen Bevölkerung, die ihren sexuellen Höhepunkt bis zum Tabubruch des Tötens treibt.


Ermutigung für das Kino der Zukunft

Leicht und humorvoll interpretieren hingegen viele Musicals, Musikfilme und Komödien das Genre. Denn auch hier gehören Wanderbühnen-Filme zu den Höhepunkten ihrer Gattung wie beispielsweise die revolutionäre Westernkomödie „Viva Maria!“ (1965) von Louis Malle, der flüchtige Liebesreigen in „Die Mädchen von Rochefort“ (1967) von Jacques Demy, das poetische Puppenspiel in „Lili“ (1953) von Charles Walters oder die Drag-Queen-Tour in „Priscilla – Königin der Wüste“ (1994) von Stephan Elliott, denn die Wanderbühne im Film mobilisiert sogar die Road-Movies.

Die Drag-Queen-Tour in „Priscilla – Königin der Wüste“ ist eine moderne Variante der Wanderbühnen (© IMAGO / Everett Collection)
Die Drag-Queen-Tour in „Priscilla – Königin der Wüste“ ist eine moderne Variante der Wanderbühnen (© IMAGO / Everett Collection)

Die bewegte Kino- und Filmgeschichte hat die bewegende kleine Wanderbühne auf Leinwand richtig groß gemacht. Und umgekehrt liefert die jahrhundertealte Tradition der nationalen und internationalen Wanderbühnen und -truppen wiederum eine Steilvorlage für ihre Interpretation in Drehbüchern, Szenenbild und Kameraeinstellungen, in Regie, Schauspiel und Kostümbildern. Und auch in der Kinogeschichte bleibt die Begegnung vom Wanderkino mit den Artisten der Theaterwanderbühne weiterhin lebendig. In „Die wunderbaren Männer mit der Kurbel“ (1978) von Jirí Menzel, „Wanderkino Pym (1977) von John Powers oder „Die Serpentintänzerin“ (1991/1992) von Helmut Herbst sind Filmvorführung und Schauspiel in Symbiose und Nostalgie vereint und wippen gemeinsam auf dem Pferdewagen Richtung Jahrmarkt zur Wiege des Kinos.

Ob solche Nostalgie gegenüber der Kinogeschichte, Erotik und Demütigung in der Liebe, Monster und ihr monströses Publikum auf den öffentlichen Bühnen, das Wundersame der Bilder-Magie oder die akute Zuflucht und das gleichzeitig so Flüchtige der Gemeinschaft – der Wanderbühnen-Film hat es geschafft, seine spezifischen Botschaften des Um- oder Aufbruchs durch die Jahrzehnte hinweg immer wieder zeitgemäß zu verpacken. Es sind hoch emotionalisierende Filme, die dabei ganz viel über die Wirkmacht der projizierten Bilder und das Kino selbst erzählen. Ihre Wiederentdeckung gehört dringend auf die Leinwände von heute – egal, ob sie fest in Filmkunsttheatern installiert oder Open-Air auf Plätzen, in Zelten oder Hinterhöfen mobil aufgestellt werden. Spielen, spielen um jeden Preis!


Mit Dank an Florian Kaiser von der Wanderbühne Theater Carnivore für die Initiation des Themas.


Hinweis

Die Essayreihe „Die Zukunft des Kinos“ von Morticia Zschiesche entsteht im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums, das der Verband der deutschen Filmkritik zusammen mit MFG Filmförderung Baden-Württemberg, der Film- und Medienstiftung NRW und der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) jährlich vergibt. Die einzelnen Beiträge von Morticia Zschiesche und viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.

Kommentar verfassen

Kommentieren