Es gibt einen Weg ins Kino und einen ins Leben zurück. Jammern über den Zustand der Welt im Allgemeinen oder den besonderen der Berlinale nützt dabei eher wenig. Vielleicht wäre Weinen eher angebracht, wie schon Seneca, aber auch Kafka wusste.
Mir ist aufgefallen, dass ich zu viel klage, wenn ich vom Festival schreibe. An meinem letzten Tag in Berlin gelobe ich Besserung. Immerhin riet schon Seneca, der aufgrund des als Special gezeigten „Seneca – Oder: Über die Geburt von Erdbeben“ für lange Zeit in meinem Gedächtnis wie John Malkovich aussehen wird, sich von den Nörglern fernzuhalten. Sie würden immer Grund zum Jammern finden.
Aber jammert man nicht auch, um Gemeinsamkeiten zu finden? Letztlich ist auch ein Filmfestival eine Ansammlung Getriebener, Gezwungener, Hungriger und Übersättigter, die nach einer Verbindung suchen. Auf der gemeinsamen oder ganz persönlichen Suche nach jenem Film, der endlich alles klärt oder beendet. Sie suchen untereinander und mit den Filmen. Sie leben noch nicht in jenem Eremocene, dem Zeitalter der Einsamkeit, das entsteht, weil wir Menschen zu viele andere Lebensformen ausgelöscht haben, wie der Biodiversitätsexperte E.O. Wilson sagte.
In ihrem Film „Poznámky z Eremocénu“ (Notes from Eremocene) zelebriert Viera Čákanyová die letzten Funken einer analogen Menschlichkeit in einer Welt und in einem Film, die schon vollends von digitalen Technologien beherrscht werden. Ihr Film hat viele schöne und anregende Momente, aber wie immer, wenn ich virtuosen Umgang mit künstlich erzeugten Bildern sehe, sehne ich mich nach der wirklichen Welt. „Ich würde lieber noch ein letztes Mal im echten Ozean schwimmen“, sagt eine der menschlichen Stimmen, nach denen die digitalen Stimmen der Zukunft im Film suchen.
Auch ich würde lieber im Menschlichen sterben als im Künstlichen überleben. Meine schönsten Beobachtungen während der Berlinale mache ich folgerichtig zwischen den Kinos. Zum Beispiel als eine ungefähr 70-jährige Frau in der U-Bahn in einer gewöhnungsbedürftigen, aber aufrichtigen Interpretation von „My Heart Will Go On“ von Céline Dion intoniert und das ganze Abteil über sämtliche Kulturen und Klassenunterschiede hinweg lächeln und lachen muss, bevor ihr fast alle Münzen geben.
Nach der Vorführung von Angela Schanelecs „Music“ umarmt mich ein befreundeter Kritiker aus Brasilien lange, weil wir ähnliches empfunden haben. Genau das macht das Kino aus. Es gibt einen Weg zu ihm und von ihm zurück ins Leben.
Am Abend erfahre ich vom Tod Safi Fayes. Sie war eine große Filmemacherin, deren Filme hoffentlich noch lange gezeigt werden. In den Fiktionsbescheinigungen wurde dieses Jahr ihr vom deutschen Fernsehen produzierter Film „Man sa yay (I, Your Mother)“ präsentiert. Ich habe ihn verpasst wie so vieles. Aber ich möchte nicht jammern. Man darf weinen, aber nicht jammern, wie Seneca und auch Kafka wussten.
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