Quentin Tarantino hat mit „Cinema Speculation“ einen Band mit Essays zum Kino der1970er-Jahre, den Protagonisten von New Hollywood und seinen filmischen Nachfolgern geschrieben. Mit ausgiebigem Eifer nimmt der Regisseur die Arbeiten der großen Meister auseinander, erzählt aber auch von seinem eigenen Leben. Seine kritischen Auseinandersetzungen verknüpfen sich geschickt mit Erinnerungen an seine Jugend in Los Angeles.
Es
war in den Kinos des Sunset- und Hollywood-Boulevard in Los Angeles, in denen
der junge Quentin Tarantino in den 1970er-Jahren begann, sich ein
enzyklopädisches Filmwissen anzueignen. Wie sich am Werk des Regisseurs und
anhand seiner cineastischen Vorlieben ablesen lässt, waren diese frühen
Kinoerfahrungen nicht immer jugendfrei. Tarantino genoss in Filmdingen das
ausgesprochene Laissez-faire seiner Mutter und seines temporären Ziehvaters,
mit denen er gemeinsam Vorstellungen von Filmen wie William Friedkins „The French Connection“, Don Siegels „Dirty Harry“ oder Roger
Vadims „Pretty Maids All in a Row“ besuchte. Von diesen
Kinobesuchen berichtet Tarantino nun ausgiebig in seinem Buch „Cinema Speculation“, einem Band
miteinander verknüpfter Essays über das Filmgeschehen, in denen der Regisseur
auch Einblick in seine Autobiografie gewährt.
Endlos über Kinofilme quatschen
Zuletzt hatte Tarantino immer wieder betont, dass er nur noch einen weiteren Kinofilm zu drehen gedenke; danach würde er seine Filmemacher-Karriere an den Nagel hängen. Denn Tarantino ist der festen Überzeugung, dass Regisseure im Alter nicht besser werden. Ob Tarantino, der noch nicht einmal 60 Jahre alt ist, das Filmen auf Dauer tatsächlich sein lässt, wird sich zeigen. Betrachtet man allerdings seine Umtriebigkeit im Bereich der Publizistik, ist man geneigt, ihm Glauben zu schenken. Als Schriftsteller versuchte sich Tarantino zuletzt mit der Buchversion von „Once Upon a Time in Hollywood“, in dem er die Handlung seines Films in Romanform weiterspinnt.
Bei seiner jüngsten Publikation „Cinema Speculation“ ist der US-Regisseur nun ganz bei sich, denn hier kann er das tun, was er im Grunde am liebsten macht, nämlich endlos über Kinofilme quatschen. Dabei kommt aber weitaus mehr als eine verquasselte Anekdotensammlung heraus. Das verdankt sich Tarantinos erzählerischem Geschick, den Episoden eine emotionale Aufladung zu geben, die im engen Zusammenhang mit seinem jugendlichen Erleben steht, mit Erinnerungen an die stets wechselnden männlichen Bezugspersonen und den Enttäuschungen, die er durch sie immer wieder erfuhr.
Sein Stiefvater und seine Mutter nahmen den Jungen in einer Zeit ins Kino mit, die von einem cineastischen Generationenwechsel geprägt war. Die Filmemacher des New Hollywood wie Francis Ford Coppola, Hal Ashby, Robert Altman und Sam Peckinpah bestimmten seit Ende der 1960er-Jahre das Kinogeschehen und erweiterten mit ihren Filmen das Bewusstsein des Publikums, das in den 1970er-Jahren dann bereit war, kontroverse und höchst ambivalente Filmerfahrungen zu machen.
Lieblingserinnerungen und ein „Bambi“-Trauma
„Erwachsenenzeit“
nennt Tarantino diese Kinobesuche. Zu ihr gehören auch die anschließenden Bar-
und Restaurantbesuche seiner Eltern, bei denen das Kind stets Stillschweigen zu
bewahren hatte, ansonsten drohte ihm, beim nächsten Mal nicht mehr mitgenommen
zu werden. Es waren aber auch die Momente, in denen seine Eltern sich über die
Filme unterhielten, die sie soeben gemeinsam gesehen hatten. Vor allem an die
Autofahrten und die Diskussionen der beiden denkt Tarantino besonders gerne und
nennt sie seine „schönsten Erinnerungen“. Ab und an kam der spätere Regisseur während
dieser Fahrten auch selbst zu Wort.
Die Familie unterhielt sich über Filme wie „Butch Cassidy and Sundance Kid“; aber auch „M.A.S.H.“ und „Bullitt“, dem ein ganzes Kapitel gewidmet ist, standen auf dem Programm. Die Gewalt, mit der der junge Tarantino in diesen Filmen konfrontiert wurde, hatte durchaus Auswirkungen auf den Jungen. Seine Mutter versicherte ihm hingegen, dass die Nachrichten und das reale Leben weitaus schlimmer seien als die Movies, die sie gemeinsam besuchen. Zu einem traumatischen Kinoerlebnis wurde allerdings ein anderer Film. Es war der Walt-Disney-Klassiker „Bambi“, den er nicht ertragen konnte. Tarantino beklagt explizit die Trennung des Rehkitzes von seiner Mutter und deren Tod, als sie am Waldrand erschossen wird; „das alles regte mich mehr auf als irgendein anderer Kinofilm“.
„Wir waren quasi eine Sitcom“
Das WG-Leben seiner Mutter sollte sich für Tarantino als ebenso prägende Erfahrung herausstellen. Mit zwei ihrer besten Freundinnen lebte die Mutter gemeinsam mit ihrem Sohn zusammen. „Wir waren quasi eine Sitcom“, schreibt Tarantino hierzu. Der neue Boyfriend seiner Mom, ein Footballspieler namens Reggie, nahm den Jungen mit ins Kino. Mit Reggie lernte er das Blaxploitation-Kino und Filme wie „The Mack“ mit Max Julien und Richard Pryor oder „Black Gunn“ mit Jim Brown kennen.
Diese autobiografischen Abschnitte zeigen, wie Quentin Tarantino schon früh jene filmischen Erfahrungen machte, die später seine Arbeit als Regisseur prägten. Der Junge erweist sich in diesen Passagen nicht nur als cineastischer Allesfresser, sondern legt vor allem die Begabung eines immensen visuellen Gedächtnisses offen: noch Jahrzehnte später kann er sich detailgenau an Einstellungen erinnern, die er als Kind gesehen hat. Die filmische Grammatik erlernte Tarantino nicht auf der Filmhochschule, sondern im Kino. Seine Liebe zu den Genre-Filmen bildete sich früh heraus. Deshalb fühlte er sich bald auch zu den Arbeiten einer neuen Generation von Filmemachern hingezogen, den „Movie-Brats“, eine Gegenbewegung zu den New-Hollywood-Leuten, darunter Regisseure wie Brian De Palma, Martin Scorsese und Paul Schrader, mit deren Filmen sich Tarantino in „Cinema Speculation“ ausgiebig beschäftigt.
Keine bloße Ehrerbietung
Seine kapitellangen Essays sind allerdings beileibe keine bloßen Ehrerbietungen und Lobhudeleien. Tarantino widmet sich durchaus kritisch den Verfehlungen seiner filmischen Vorbilder und stellt sich beispielsweise die Frage, wie etwa „Taxi Driver“ ausgesehen hätte, wenn er statt von Scorsese beispielsweise von De Palma gedreht worden wäre – Cinema Speculation eben. Schon bald teilte Tarantino die Vorliebe der Movie-Brats, das Genre-Kino um seiner selbst willen ernst zu nehmen und nicht lediglich als Anti-Estabishment-Vehikel.
Einzelne Kapitel widmet Tarantino dabei Filmen wie „Bullitt“, „Dirty Harry“, „Deliverance“, „The Getaway“ und „Rolling Thunder“. Manche fußnotenlangen Ausschweifungen stellen vor echte Herausforderungen. Tarantinos betont mündlicher Stil und seine „bunte“ Metaphern-Wahl funktionieren in der ansonsten vorbildlichen Übersetzung von Stephan Kleiner nur bedingt und haben einen deutlichen Einschlag ins Derbe. Was die Freuden cineastisch geneigter Leser:innen jedoch nicht mindert.
Im Schlusskapitel, das eigentlich nur eine weitere lange Fußnote ist, entfaltet sich dann noch einmal ein bewegender Erzählhöhepunkt des Bandes. Darin geht es unter anderem auch darum, wie der junge Tarantino zum Drehbuchschreiben kam, und wie sehr seine Filmleidenschaft zutiefst mit den – zum Teil auch enttäuschenden –Begegnungen in seinem Leben verknüpft ist. Allein schon diese Seiten lohnen die Lektüre von „Cinema Speculation“.
Cinema Speculation: Die Filme meines Lebens. Von Quentin Tarantino. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 400 S., 26,00 EUR. Bezug: in jeder Buchhandlung oder hier.