Passionen: Lav Diaz und das doppelbödige Singspiel „Season of the Devil“

Selten war Lav Diaz so sehr bei sich selbst wie in „Season of the Devil“ - Eine Hymne.

Veröffentlicht am
31. Mai 2018
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Einer der eigenwilligsten Filme der diesjährigen „Berlinale“ war das 234-minütige Epos „Season of the Devil“ des philippinischen Regisseurs Lav Diaz. Eine Art „Singspiel“ über die Massaker einer Bürgerwehr, die den Menschen den Glauben an Geister und Legenden austreiben wollen. Olaf Möller widmet dem herausfordernden Werk eine Hymne.

Lang ist es her, dass ein A-Festival; also nicht nur die „Berlinale“, sondern auch Cannes, Venedig oder andere, einen Wettbewerb zur Disposition stellte, der derart viele und auf ganz unterschiedliche Weisen formal avancierte Werke offerierte – die man nicht immer mögen musste, aber zumindest respektieren sollte. Für eines davon gab es sogar den „Goldenen Bären“: „Touch Me Not“ von Adina Pintilie, ein Essay über das Mysterium des Begehrens. Viele andere aber zogen mit leeren Händen und meist auch noch von der Kritik verspottet von dannen. Bärenlos blieben Philip Grönings frenetisches Grübeln über den Zusammenhang von Geist und Materie,Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“, Mānī Ḥaghīgīs süffisant-übermütige Satire „Khook“ sowie Erik Poppes radikaler Versuch in Mitleid, „Utøya 22. juli“; was nur die Spitzen waren, weitere, weniger überbordend-aufwühlende, eher still-konzentrierte Arbeiten ließen sich nennen.

Weiter als Lav Diaz aber trieb es niemand: „Season of the Devil“, sein neues Meisterwerk, ist ein Singspiel im Gedenken an die Abertausende, die während der Marcos-Diktatur dem staatlichen Terror zum Opfer fielen. Der Film lässt sich aber durchaus auch als Allegorie über die aktuellen Zustände unter Präsident Rodrigo Duterte lesen.

Die Geschichte ist im Kern sehr simpel. Zu Beginn wird an das Präsidialdekret Nr. 1016 aus dem Jahr 1976 erinnert, das zur Gründung einer irregulären paramilitärischen Gruppierung namens Integrated Civilian Home Defense Forces (CHDF) führte. Erzählt wird, wie eine Frau und ein Mann, deren Angehörige von einer CHDF-Einheit ermordet wurden, mit diesem Gewaltakt zu leben versuchen. Sie solidarisiert sich leise mit dem bewaffneten Untergrund, er ergeht sich erst in Selbstmitleid, bevor er sich aufmacht, um die Täter zu finden und zur Rede zu stellen; dabei vergehen mehrere Jahre.

Die Frau ist eine Bäuerin, die wie ein Geist durch ihr Heimatdorf schleicht, der Mann ein Dichter, dem der Schmerz den Schreibwillen raubte. Insgesamt hat der Film vier Protagonisten: Neben dem Mann und der Frau noch die CHDF-Einheit sowie die Dorfgemeinschaft, wobei aus diesen Gruppen immer wieder einzelne Akteure heraustreten, nur um dann wieder im Chor aufzugehen.

"Season of the Devil"
"Season of the Devil"

Als mysteriöse Figur im Hintergrund muss man den Anführer der CHDF-Einheit nennen, dessen buchstäblicher Januskopf ebenso für Präsident Marcos steht wie er etwa an den messianischen Kommandeur Kontra aus Lino Brockas Todesschwadronen-Thriller „Orapronobis“ (1989) erinnert.

„Singspiel“ ist für „Season of the Devil“ eine eher ungenaue Beschreibung dessen, was Diaz da macht; doch für diese Form gibt es noch keinen Namen. Sucht man filmhistorisch nach Vergleichswerken, dann landet man bei Jacques Demy: „Die Regenschirme von Cherbourg“ (1964) und„Ein Zimmer in der Stadt“ (1982) sind in der Verwendung von gesungener Sprache durchaus vergleichbar. Wobei Demy eine stilisierte Alltagssprache singen lässt, während bei Diaz manchmal stilisierte Gespräche, manchmal Lieder erklingen; bisweilen gleitet das eine in das andere über; dementsprechend hat der Vortrag manchmal etwas von Gesang, manchmal von Sprechgesang, gelegentlich ist er melodisch, dann wieder rau; zudem gibt es relativ früh eine Dichterlesung, die nur gesprochen wird, sowie zwei Auftritte des ominösen Diktators, dessen Tagalog dem Deutsch von Charlie Chaplin in „Der große Diktator“ (1940) gleicht – Einschüchterungskauderwelsch als dadaistische Lyrik; um das Ganze wirklich vertrackt zu machen, verwandeln sich manchmal Dialoge bei ihrer späteren Wiederholung in Liedzeilen – das Leben verdichtet sich zu Kunst.

Allerdings ist „Season of the Devil“ für sich genommen so einzigartig nicht. Es gibt andere Werke in der gegenwärtigen philippinischen Filmkultur, die sich damit gut zusammendenken lassen. Etwa Alberto Montreras IIs brillantes Langfilmdebüt „Respeto“ (2017), welches ebenfalls von einem Dichter handelt, der unter Marcos gefoltert wurde, danach seinen Willen zum Schreiben verlor und diesen nun, Dekaden später, ganz vorsichtig durch einen jugendlichen Rapper wiederfindet, während sich sein Sohn, ein Polizist, zu jener Art Mensch entwickelt, gegen die er in den 1970er-Jahren ankämpfte. Man kann auch an die halb dokumentarisch, halb szenisch gestaltete Filmbiografie „The Guerilla is a Poet“ (2013) von den Dalena-Schwestern Sari Raissa Lluch & Kiri denken, die ein Jahr später das Polit-Musical „Ang Kababaihan Ng Malolos“ inszenierten.

"Season of the Devil"
"Season of the Devil"

Das soll freilich nicht heißen, dass Diaz jemanden nachahmt hätte; er war mit dem Projekt viele Jahre beschäftigt, da sich eines der Lieder, „Nasaan Ka, Anak Ng Bayan“, schon 2010 im Abspann des Films „Vapor Trail (Clark)“ von John Gianvito findet. Man muss es wahrscheinlich eher so sehen: Lav Diaz bewegt sich wie Montreras II und die Dalena-Schwestern innerhalb eines politisch-kulturellen Feldes, in dem Lyrik sehr zentral ist. Wenn man Rückbezüge sucht, wird man durchaus fündig. So rekurrieren die Worte „Anak ng bayan“ (Sohn des Volkes) in dem Song „Nasaan Ka, Anak Ng Bayan“ sowohl auf ein Lied aus dem philippinischen Widerstand als auch auf den Namen der Unabhängigkeitsbewegung, die sich im späten 19. Jahrhundert gegen die spanische Kolonialherrschaft erhob, die Kataas-taasang, Kagalang-galangang Katipunan ng̃ mg̃á Anak ng̃ Bayan.

„Season of the Devil“ ist ein Epos im eigentlichen Sinne: eine Erzählung vorrangig historischer Natur, die mit Reimen und Melodien arbeitet, damit man sie besser erinnern und weitergeben kann. Als solches ist das Epos auch eine Kunstform für diejenigen, die des Lesens und Schreibens nicht mächtig sind – Volksdichtung im besten Sinne.

Selten war Diaz so sehr bei sich selbst wie in „Season of the Devil“. Am Ende, während des Abspanns, hört man ihn denn auch selbst eines der Lieder singen.


Fotos: Giovanni D. Onofrio

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