Eine Ingenieurin heuert auf einem Frachtschiff an. In ihrer Kajüte stößt sie auf Notizen ihres Vorgängers, die vom besonderen Glück, aber auch von der tiefen Traurigkeit auf hoher See erzählen, was sich für sie zu wiederholen scheint, als sie eine Affäre mit dem Kapitän beginnt. Mit Gespür für die poetischen Dimensionen erzählt der melancholische Film fast dokumentarisch vom Alltag an Bord mit Ritualen, Hierarchien und Konflikten. Die Geschichte der sexuellen Selbstbestimmung wirkt unschlüssig, doch die Verknüpfung der Motive mit der ökonomischen Seite der Seefahrt verleiht dem Film dezente metaphorische Qualitäten.
- Ab 14.
Alice und das Meer
Drama | Frankreich 2014 | 97 Minuten
Regie: Lucie Borleteau
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Filmdaten
- Originaltitel
- FIDELIO, L'ODYSSÉE D'ALICE
- Produktionsland
- Frankreich
- Produktionsjahr
- 2014
- Produktionsfirma
- Apsara Films/Why Not Prod./ARTEA France Cinéma
- Regie
- Lucie Borleteau
- Buch
- Lucie Borleteau · Clara Bourreau
- Kamera
- Simon Beaufils
- Musik
- Thomas De Pourquery
- Schnitt
- Guy Lecorne
- Darsteller
- Ariane Labed (Alice) · Melvil Poupaud (Gaël) · Anders Danielsen Lie (Felix) · Pascal Tagnati (Antoine) · Jean-Louis Coulloc'h (Barbereau)
- Länge
- 97 Minuten
- Kinostart
- 22.09.2016
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Melancholisches Drama um einen Ingenieurin, die auf einem Frachtschiff anheuert und in den Notizen ihres Vorgängers ihr eigenes Erleben gespiegelt sieht.
Diskussion
„Was auf See passiert, bleibt auf See“, hieß es früher. Das entstammt allerdings einer längst überkommenen, anachronistischen Seefahrer-Romantik von Freiheit, Abenteuer und den Bräuten in jedem Hafen, die sich in Zeiten von Neoliberalismus, Internet und Smartphones schwerlich behaupten kann. Denn so schnell, wie die Ladung im Hafen gelöscht und neue geladen wird, bleibt gar keine Zeit für eine Braut, sondern höchstens für einen Shopping-Landgang.
Doch Alice, die als Ingenieurin auf Frachtschiffen arbeitet, weiß noch um die Faszination, die von der Seefahrt ausgeht. Zwar hat sie gerade einen neuen Freund, den aus Norwegen stammenden Comic-Zeichner Felix, aber als ein Unfall sie als Springerin auf die „Fidelio“ ordert, ist sie schnell bei der Sache. Schließlich handelt es sich um ihre erste große Fahrt in der Handelsmarine. Gewohnt, sich als einzige und sehr attraktive Frau (hinreißend gespielt von Ariane Labed), in der international gut durchmischten Besatzung zu behaupten, scheint es ein Routine-Job. Doch dann findet Alice das Tagebuch ihres tödlich verunglückten Vorgängers, das von all den Widersprüchen und Ambivalenzen eines Lebens in der Parallelwelt auf See erzählt.
Fast schon dokumentarisch und mit viel Gespür für die poetische Dimension der an Bord herrschenden Atmosphäre und das eigentümliche Milieu erzählt die Filmemacherin Lucie Borleteau vom Alltag auf See, von der anfallenden Arbeit, plötzlich auftretenden technischen und logistischen Problemen, von der gemeinsamen Freizeitgestaltung und den Landgängen, von Ritualen, Hierarchien und Konflikten.
Ein kleines Zugeständnis ans Genre besteht darin, dass die „Fidelio“ ein echter Seelenverkäufer ist, von dessen dröhnendem Maschinenraum mit den schlecht gewarteten Maschinen, den scharfkantigen Rohren, dem Öl und den Dämpfen eine unangenehm permanente Bedrohung auszugehen scheint. Und die andere Drohung? Allein unter Männern? Einmal schleicht sich ein Matrose nachts in Alices Kabine, belästigt sie, wird aber unmissverständlich und routiniert in die Schranken gewiesen. Anders verhält es sich mit dem Kapitän. Als Alice ihre Ausbildung absolvierte, war Gaël ihre große Liebe, schienen Freiheit und Liebe ein einziges Abenteuer.
Zunächst versucht Alice demonstrativ, Gaël aus dem Weg zu gehen, doch das ist auf einem Schiff nicht immer einfach. Schließlich ist sie es, die das Aufflammen der Affäre forciert und gleichzeitig hofft, ihre Beziehung zu Felix dadurch nicht zu gefährden. Kann man die Welten auseinanderhalten? Auch Gaël ist liiert, und was auf See geschieht, wird mittlerweile unter Umständen auch dokumentiert und per SMS verschickt.
Alices Initiative einer sexuellen Selbstbestimmung wirkt seltsam unschlüssig, orientierungslos und auch moralisch unreflektiert. Groß scheint ihre Überraschung, als ihr Handeln an Land negativ sanktioniert wird. Von Felix, von ihrer Familie. Als sie sich vor den Problemen in die nächste Heuer flüchtet, jetzt zur Chefingenieurin befördert, wird allerdings auch deutlich, dass eine nächste Affäre die Hierarchie an Bord gefährdet: der Selbstbestimmung sind dann doch an traditionellen Geschlechterrollen orientierte Grenzen gesetzt.
„Fidelio, L’Odyssée d’Alice“, heißt der Film im Original, dessen deutscher Verleihtitel etwas sehr lapidar geraten ist. Denn die Irrfahrt der „Fidelio“, die ebenso wie die Mannschaft von den Börsennotierungen abhängig ist und nach Bedarf mit unterschiedlichster Ladung die Weltmeere überquert, wird recht eng mit den emotionalen und sexuellen Irrungen und Wirrungen der Protagonistin kombiniert, die sich nicht recht zwischen den Welten, in denen sie lebt, entscheiden mag. Durch die Vielzahl der miteinander verknüpften Motive und Konflikte, die mit der Darstellung eines doch eher von der Routine bestimmten Arbeitsalltags an Bord verbunden sind, nagt der melancholische Film konsequent am ohnehin nur noch oberflächlichen Glamour der Seefahrt und entlässt zumindest auf der Erzählebene in die Prosa eines polnischen Abwrack-Docks.
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