Versailles, kurz nach dem Sturm auf die Bastille 1789: Eine junge Frau, Vorleserin der Königin Marie Antoinette, beobachtet die zwischen Ignoranz, Angst und Unverständnis wechselnden Reaktionen der Hofgesellschaft auf die anbrechende Revolution. Da sie der Königin in inniger Liebe zugetan ist, lässt sie sich auf eine gefährliche Maskerade ein, um deren beste Freundin vor dem Volkszorn zu retten. Präzise schildert der Film aus der Perspektive einer Figur, die sich zwischen der Sphäre der Dienstboten und der Pracht der königlichen Gemächer bewegt, den Zerfall eines Herrschaftssystems, wobei er die Verdrängung und Realitätsferne der Mächtigen deutlich macht.
- Sehenswert ab 14.
Leb wohl, meine Königin!
Drama | Frankreich/Spanien 2012 | 105 (24 B./sec.)/101 (25 B./sec.) Minuten
Regie: Benoît Jacquot
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Filmdaten
- Originaltitel
- LES ADIEUX À LA REINE | ADIÓS A LA REINA
- Produktionsland
- Frankreich/Spanien
- Produktionsjahr
- 2012
- Produktionsfirma
- GMT Prod./Les Films du Lendemain/France 3 Cinéma/Morena Films/Euro Media France/Invest Image
- Regie
- Benoît Jacquot
- Buch
- Benoît Jacquot · Gilles Taurand
- Kamera
- Romain Winding
- Musik
- Bruno Coulais
- Schnitt
- Luc Barnier
- Darsteller
- Diane Kruger (Marie Antoinette) · Léa Seydoux (Sidonie Laborde) · Virginie Ledoyen (Gabrielle de Polignac) · Xavier Beauvois (Louis XVI.) · Noémie Lvovsky (Mme Campan)
- Länge
- 105 (24 B.
sec.)
101 (25 B.
sec.) Minuten - Kinostart
- 24.05.2012
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Drama | Historienfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Benoît Jacquots Abgesang aufs "Ancien Régime", geschildert aus der Perspektive einer Figur, die sich zwischen der Sphäre der Dienstboten und der Pracht der königlichen Gemächer bewegt
Diskussion
Es vergeht fast eine Stunde, bevor Benoît Jacquot den monarchistischen Staat zum ersten und einzigen Mal in seiner repräsentativen Funktion zeigt: als einen „Körper“, der sich formiert und im selben Augenblick doch schon im Zerfall begriffen ist. Nachdem sich die Nachricht vom Sturm auf die Bastille herumgesprochen hat, treten König Ludwig XVI. und Marie Antoinette vor den Versailler Hofstaat. Was ein konventioneller Historienfilm in fast schon standardisierter Weise als perfekt einstudierte und durchchoreografierte Inszenierung vorführen würde (meist aus einer totalen, Überblick suggerierenden Perspektive), gerät bei Jacquot zu einem gleichsam nach Ordnung und Konturierung suchenden Ritual. So zeigt die bewegte Kamera die aufgewühlte Masse äußerst unelegant in den prachtvollen Empfangssaal eilen – man sieht Close-ups von Rückenansichten, ein hektisches Durcheinander von Beinen –, bevor sie vor dem Souverän endlich zu ihrer Haltung findet, in die der Etikette geschuldeten Verbeugungen und Verrenkungen. Doch auch die Herrscher haben Mühe, ihre Haltung zu bewahren. Kaum hat die Duchesse de Polignac, die intime Freundin der Königin, den Saal betreten, gleitet die öffentliche Zurschaustellung in eine irritierende Privatheit ab: Die beiden Frauen stecken verschwörerisch ihre Köpfe zusammen und verlassen in enger Umarmung den Saal. Auch wenn die Szene aufgrund des personellen und inszenatorischen Aufwands aus dem Rest des Film heraus sticht – zuvor spielte sich das Geschehen hauptsächlich in privaten Räumen mit wenigen Personen ab –, ist sie doch symptomatisch für Jacquots Verständnis von Geschichte und das, was ein Historienfilm an analytischer Reflexion zu leisten bzw. an „Geschichtsunterricht“ zu unterlassen hat. So gewährt er in einem historisch bedeutsamen Augenblick – die Revolution steht buchstäblich vor der Tür – keine Übersicht und geht darin doch unglaublich präzise vor. Präzision bedeutet in „Lebe wohl, meine Königin“ eben nicht die historisch möglichst korrekte Rekonstruktion der geschichtlichen Abläufe, sondern die genaue Beobachtung dessen, was aus der Geschichtsschreibung heraus fällt: die Unsicherheit, die Verwirrung und Desorientierung, nicht zuletzt die habituellen Auswirkungen des Systemverfalls, das Stolpern und Ringen um Fassung.
Erzählt wird von den ersten Tagen der französischen Revolution aus der Sicht von Sidonie Laborde, die als Vorleserin der Königin tätig ist. Aufmerksam nimmt sie jede kleinste Veränderung innerhalb des hermetisch abgeschlossenen Hofstaats wahr. Allmählich erst sickern Nachrichten in den Palast. Exekutionslisten kursieren, Fluchtpläne werden geschmiedet und wieder verworfen, Habseligkeiten werden sortiert und transportgerecht aufbereitet, die Bediensteten sehen ihre Gelegenheit und versuchen sich zu bereichern. Wiederholt sieht man, wie Sidonie hinter Vorhängen hervorspäht, durch Türspalten lugt oder bei einem alten Bibliothekar Informationen einzuholen sucht – ausschnitthaft zeigt sich ihr die Welt, ein kohärentes und historisch lesbares Bild vermag sie aus den Fragmenten hingegen nicht zusammen zu fügen. Dass der Film Sidonies Beziehung zur Königin als die einer versteckten, bis zur letzten Konsequenz bedingungslosen Liebe erzählt – eine Liebe, die sich im angedeuteten lesbischen Begehren Marie Antoinettes zur Duchesse spiegelt und miteinander verschränkt wird –, erscheint nicht zwingend, und mitunter fragt man sich, warum Jacquot diesem Liebesdreieck überhaupt so viel Raum gibt.
Weit interessanter ist die Figur der Vorleserin im Hinblick auf ihre prekäre Rolle zwischen den sozialen Klassen. Gerade noch ist Sidonie in einer schäbigen Dienstbotenkammer von Mücken zerstochen aus dem Schlaf erwacht, findet sie sich schon wenig später, ein Werk von Mariveaux vorlesend, im prunkvollen Schlafzimmer Marie Antoinettes wieder, die der launisch bestellten Dienstleistung den Anschein einer Vertrautheit unter engsten Freundinnen verleiht. Marie Antoinette ist in „Lebe wohl, meine Königin“ zwar nicht das melancholische „poor little rich girl“, als das sie Sofia Coppola gezeichnet hat (fd 37 865), sie ist erwachsener, angegriffener; doch das Weltfremd-Kapriziöse bricht auch bei Jacquot immer mal wieder hervor. Während die rangobersten Adeligen bereits das sinkende Schiff verlassen haben, blättert sie noch selig in ihrem Buch mit Stoffproben und gibt eine aufwändige Blumenstickerei in Auftrag. Vor allem in der ungeheuren Blindheit und Verdrängungsleistung der Macht erfasst Jacquot einen grundlegenden Aspekt jedes systemischen Zerfalls. Die Herrschenden haben die Verbindung zum Volk längst verloren, auf die politischen Umbrüche reagieren sie mit Unverständnis und Ratlosigkeit. Ihnen bleibt nur, ihre Rollen einfach weiter zu spielen – so lange, bis es nicht mehr geht. Wenn dann aber am Ende die Vorleserin in die Rolle der Duchesse gezwungen wird, um deren Kopf zu retten, bringt Jacquot diese Ordnung erheblich ins Wanken: Sidonie macht aus dem Opfer einen Akt der Aneignung, einen stillen Triumph.
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