Eine allein erziehende Witwe in Tunis sorgt selbstlos für ihre fast schon erwachsene Tochter. Als sie zufällig in Kontakt mit Tänzerinnen eines Nachtklubs kommt, beginnt sich ihr Leben grundlegend zu ändern. Sie blüht auf und entwickelt zunehmendes Verständnis für die Sehnsüchte ihrer Tochter. Der Film beginnt mit einem scheinbaren Endzustand und endet mit einem Beginn. Eine mit sicherer Hand inszenierte Geschichte einer inneren Befreiung, die auch davon Zeugnis ablegt, wie falsch das Bild der islamischen Welt als eines homogen-fundamentalistischen Blocks ist. (O.m.d.U.; Kinotipp der katholischen Filmkritik)
- Sehenswert ab 16.
Roter Satin
- | Tunesien/Frankreich 2002 | 91 Minuten
Regie: Raja Amari
Kommentieren
Filmdaten
- Originaltitel
- SATIN ROUGE
- Produktionsland
- Tunesien/Frankreich
- Produktionsjahr
- 2002
- Produktionsfirma
- Nomadis Images/ADR Productions
- Regie
- Raja Amari
- Buch
- Raja Amari
- Kamera
- Diane Baratier
- Musik
- Nawfel El Manaa
- Schnitt
- Pauline Dairou
- Darsteller
- Hiam Abbas (Lilia) · Hend El Fahem (Salma) · Maher Kamoun (Chokri) · Monia Hichri (Folla) · Faouzia Badr (Nachbarin)
- Länge
- 91 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Ein arabischer Film, in dem die Selbstbefreiung einer Frau anhand ihrer Faszination für Nachtclubs dargestellt wird? Über eine Heldin, die ihre Bestimmung als Bauchtänzerin findet und auch noch ein Verhältnis mit dem Geliebten ihrer Tochter anfängt? Und dies in Zeiten eines offenbar allseits grassierenden islamischen Fundamentalismus? Das scheinbare Paradox formuliert sich in Form einer tunesisch-französischen Co-Produktion, die parallel zu ihrem Start in Europa auch in ihrem arabischen Ursprungsland mit mehreren Kopien in die Kinos gelangen wird. „Roter Satin“ widerlegt auf ebenso sanfte wie nachdrückliche Weise, dass das gerade in jüngster Zeit von den Medien entworfene Bild eines monolithisch-orthodoxen Blocks der orientalischen Welt entschieden zu einfach ist. Wenn es heute möglich sein kann, einen solchen Film in Nordafrika zu konzipieren, zu drehen und zur Aufführung zu bringen, so spricht dies von grundlegenden Veränderungen im tradierten Geschlechterverhältnis. Bei „Roter Satin“ haben Frauen Regie und Kamera geführt, das Drehbuch geschrieben, die Hauptrollen verkörpert, den Schnitt besorgt und die Produktion abgewickelt. Und dies wohlgemerkt nicht bei einem Low-Budget-Film, sondern in einer wohlausgestatteten, in Dolby-Surround abgemischten 35mm-Produktion, die sich formal an allen internationalen Standards des Unterhaltungskinos messen lässt. Dergleichen geschieht nicht aus Zufall oder durch die Überlistung von Zensoren – ein solcher Film steht vielmehr für die Evidenz eines tief wurzelnden, weiblichen Selbstverständnisses in einer sonst weltweit männlich beherrschten Domäne. Gerade das Zusammenspiel aus dem unangestrengtem Gestus von „Roter Satin“ und dem entspannten Auftreten seiner weiblichen Urheber und Protagonisten sorgte während der internationalen Uraufführung des Films auf der diesjährigen Berlinale dafür, dass die Produktion zum Publikumsfavoriten avancierte. Erfreulich, dass schon nach relativ kurzer Zeit dieses ungewöhnliche Ereignis in bundesweiten Vorführungen nachzuvollziehen sein wird, gerade auch angesichts des aktuellen Hangs zur Dämonisierung aller nicht-okzidentalen Kulturen.
Lilia verbringt ihre Tage ausschließlich in den eigenen vier Wänden, macht die Betten, wischt unentwegt Staub, bereitet das Abendessen für sich und ihre Tochter Salma vor. Die einzigen Vergnügungen bestehen in gelegentlichen Fernseh-Soaps und im Hören von Musik. Für Momente steht sie dann selbstvergessen im Raum und beginnt, ihren Körper auf die Rhythmen einzuschwingen. Ganz schnell findet sie nach derartigen Entgleisungen jedoch zurück zu ihren vermeintlichen Pflichten, richtet das Haar neu und zieht die Kleidung glatt. Lilia ist Witwe, ihre gesamte Fürsorge konzentriert sich auf Salma. Diese halberwachsene Tochter bereitet ihr Sorgen: sie kommt zu spät nach Haus, isst kaum etwas von den liebevoll zubereiteten Speisen, verschmäht neuerdings auch die selbst gestrickten Pullover. Von Misstrauen geplagt, macht sich Lilia auf den Weg in die Stadt, um ihrem Kind nachzustellen. Bei ihren Exkursionen stößt sie dann zufällig auf einen als „Caberet“ firmierenden Nachtclub, in dem unter den begeisterten Zurufen der männlichen Kundschaft Frauen in ihrem Alter und darüber die Hüften kreisen lassen und die alte Kunst des Bauchtanzes praktizieren. Nach anfänglichen Berührungsängsten freundet sie sich mit Folla, dem Star des Etablissements, an. Allmählich wird das zunächst Undenkbare zum unverzichtbaren Bestandteil ihres Lebens. Lilia findet sich schließlich selbst auf der Bühne des Clubs wieder, umjubelt von ihr völlig fremden Männern. Mehr noch: Sie empfindet plötzlich in vielerlei Hinsicht wieder Vergnügen an ihrem Dasein, blüht auf, beginnt sogar eine kurze, leidenschaftliche Liebesaffäre mit Chokri, einem jungen Perkussionisten aus der Nachtbar. Folgerichtig gerät durch diese Umdisponierungen die Sorge um das sittliche Wohlergehen ihres Kindes ein wenig aus dem Blickfeld. Als hinderlich bei der Organisation ihres Doppellebens erweisen sich hingegen unangekündigte Verwandtschaft vom Lande oder die Neugierde der Nachbarn. Salma registriert die Veränderungen ihrer Mutter mit einer Mischung aus Überraschung und Freude und traut sich endlich, ihren Geliebten mit nach Haus zu bringen. Als dem potentiellen Bräutigam die Tür geöffnet wird, ist die Überraschung bei dem Gast nicht weniger groß als bei Lilia.
Regisseurin Raja Amari, eine in Paris lebende Palästinenserin, inszeniert ihre Geschichte mit dramaturgisch sicherer Hand. Der Originaltitel „Satin Rouge“ spielt vage auf David Lynchs „Blue Velvet“ ( fd 26 040) an. Wie bei Lynch tritt die Heldin in eine ihr bis dahin unbekannte Welt ein, wodurch nichts bleibt, wie es war. Doch ganz anders als dort führt dieser Weg nicht in einen allumfassenden Alptraum, sondern zur sinnlichen Erweckung. Lilia, die sich eigentlich schon mit ihrer Verzichtsrolle abgefunden hatte, blüht auf und entwickelt zunehmendes Verständnis für die Sehnsüchte ihrer heranwachsenden Tochter. „Roter Satin“ beginnt mit einem scheinbaren Endzustand und endet mit einen Beginn. Die innere Befreiung von Lilia vollzieht sich komplementär zur Orientierungssuche der Tochter Salma. An der Schnittfläche der Entwicklungen beider Frauen steht ein und der selbe Mann. Eine Tatsache, die man zunächst mit einigem Bangen registriert. Hatte sich die Handlung bislang sehr schön aus sich selbst heraus entwickelt, schien diese Verquickung dann doch etwas zu konstruiert und mit entsprechender Kolportagentendenz behaftet. Doch auch diese Untiefe wird elegant umschifft und übergangslos zum Schlussbild hin aufgelöst. Gerade im finalen Hochzeitsfest formuliert sich noch einmal der utopische Gehalt des Stoffes. Durch Lilias Öffnung erscheinen auch andere Konflikte und Ressentiments in milderem Licht. Im Epilog versammeln sich Mutter und Tochter, der Liebhaber/Bräutigam, der mürrische Onkel vom Land, ein vorher als Friseur eingeführter, offensichtlich schwuler Sänger, die Damen aus dem „Caberet“ sowie Nachbarn und Bekannte zu einem sichtbar märchenhaften Tableau der Toleranz. Ein Finale, das Fundamentalisten sämtlicher Regionen und Religionen als Provokation einstufen werden.
Kommentar verfassen