Um die zentrale Gestalt eines Zollfahnders, der vor Jahren ein Kind verloren hat und nun allabendlich in einem Striptease-Club dieselbe Tänzerin betrachtet, rankt sich eine virtuos verschachtelte Fülle von Episoden und Schicksalen. Hinter den "exotischen" Verhaltensweisen und Ritualen der Figuren werden Stück für Stück deren verschüttete Gefühlswelten offenbar. Ein intelligentes Vexierspiel, hinter dessen scheinbarer emotionaler Distanz eine bedingungslose Neugier und Anteilnahme für die Figuren sichtbar wird, wobei Faszination und Erschrecken im zentralen Begriff der "Exotik" eine untrennbare Verbindung eingehen.
- Sehenswert.
Exotica
Drama | Kanada 1994 | 104 Minuten
Regie: Atom Egoyan
1 Kommentar
Filmdaten
- Originaltitel
- EXOTICA
- Produktionsland
- Kanada
- Produktionsjahr
- 1994
- Produktionsfirma
- Ego Film Arts/Alliance/Telefilm Canada/The Ontario Film Development Corporation
- Regie
- Atom Egoyan
- Buch
- Atom Egoyan
- Kamera
- Paul Sarossy
- Musik
- Mychael Danna
- Schnitt
- Susan Shipton
- Darsteller
- Bruce Greenwood (Francis) · Mia Kirshner (Christina) · Don McKellar (Thomas) · Arsinée Khanjian (Zoe) · Elias Koteas (Eric)
- Länge
- 104 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Einseitig verspiegelte Scheiben schaffen zwei Klassen der Erkenntnis. Diesseits die Unwissenden, allein mit ihrem Spiegelbild, das sie kritisch prüfen oder lustvoll genießen; jenseits die Wissenden, die Voyeure und Kontrolleure der vermeintlich Unbeobachteten. Ihr heimliches Wissen dient der Macht und der Lust. "Exotica" beginnt mit einer Kontrolle am Flughafen. Zwar gelingt es dem jungen Tierhändler Thomas, zwei Eier exotischer Tiere durch den Zoll zu schmuggeln; beobachtet allerdings von einem Beamten, der später als "zufälliger" Liebhaber in Thomas' Wohnung auftaucht und aus seinem Wissen Kapital schlägt.Im Striptease-Club "Exotica" dienen die Spiegel der Kontrolle der Spielregeln. Und die sind strikt: Fünf Dollar kostet eine Privatvorstellung am Tisch, wie jene, die sich der Steuerfahnder Francis allabendlich vom "Schulmädchen" Christina bieten läßt. Dabei gilt das eherne Gebot: "Anfassen verboten", über das Zoe, die Clubbesitzerin, wacht. Ein sorgfältig austariertes Gleichgewicht, das nur solange bestehen kann, wie keiner der Beteiligten aus seiner Rolle ausbricht.Als Atom Egoyans filmisches Vexierspiel "Der Schätzer" (fd 29 350) vor knapp drei Jahren in unsere Kinos kam, wirkte sein komplexer Erzählstil wohl weitaus exotischer als heute. Immerhin haben allein in diesem Jahr so unterschiedliche Regisseure wie Altman, Kieslowski und Tarantino das Puzzlespiel mit Erzähl- und Zeitebenen zum Prinzip erhoben. Im Grunde bleibt "Exotica" Egoyans Stil treu, wie er ihn seit dem Debüt "Next of Kin" (fd 29 996) stetig verfeinert hat, und den er - passend zum Hauptschauplatz des Films - mit einem Striptease vergleicht. Schicht um Schicht entblättert Egoyan das Seelenleben seiner Protagonisten, nimmt ihnen die schützenden Masken und Rituale, bis sie am Ende "nackt" dastehen. Umgekehrt gewinnen die anfangs fremden Personen Stück um Stück an Eigenleben und (durch Rückblenden) Geschichte. Und hier reicht der Film dann doch über die Striptease-Analogie weit hinaus: die Entblößung macht den Sinn der ursprünglichen Verkleidung erst deutlich; Rituale und Obsessionen entpuppen sich als Ausdruck ureigenster, meist schmerzlicher Gefühle.Angelpunkt des Geschehens ist Francis, der Steuerprüfer. Ein sanfter, leicht melancholischer Mann. Am Ende des Arbeitstages drückt er seiner Nichte Geld fürs "Babysitten" in die Hand, obwohl sein Kind seit Jahren tot ist. Nachts sucht Francis das "Exotica" auf, wo er regelmäßig Christina an seinen Tisch bittet - in just jener Schulmädchen-Uniform, die Francis' Tochter trug, damals. Diese offenkundig "besondere" Beziehung verstört Christmas Ex-Liebhaber Eric, den dämonischen Zeremonienmeister des Clubs. Eric mißbraucht die Machtposition hinter den Spiegeln, um Christina - mit einer deutlichen Portion Masochismus - zu kontrollieren. Und er nutzt sein Wissen, um Francis zum Bruch der Regeln zu verführen und ihn aus dem Club zu verbannen. Francis seinerseits erpreßt nun den Tierhändler Thomas mit seinem Wissen über dessen heimliche Geschäfte, um ebendieses Lokalverbot rückgängig zu machen.Die meist nachts und/oder in geschlossenen Räumen spielenden Handlungssegmente werden unterbrochen von Bildern eines strahlenden Sommertages auf einer weiten, offenen Wiese. Zunächst als Erinnerungsfragmente Erics ausgewiesen, geben diese Rückblenden Stück für Stück den Blick auf einen bedeutsamen früheren Schnittpunkt in den Lebensgeschichten von Francis, Christina und Eric frei. Tod, Liebe, Unschuld - in den damaligen Erschütterungen liegen die Wurzeln heutiger Konflikte. Mit dem Kinopublikum werden auch die Protagonisten noch einmal mit ihren schmerzlichen und sehnsüchtigen Erinnerungen konfrontiert. Ironisch genug: Francis' Regelverstoß - er berührt Christina und riskiert damit seinen Rauswurf aus dem Club - wird unbeabsichtigt zum Akt der Befreiung. Er nimmt die Tänzerin zum ersten Mal als Frau wahr, nicht länger als Projektion der verlorenen Tochter. Kein Zufall, daß Francis wenig später der Schritt auf die andere Seite des Spiegels gelingt.Sämtliche Filme Egoyans sind hochartifizielle Gebilde, die Intellekt und Imagination des Publikums gleichermaßen ansprechen. Dahinter verbergen sich in "Exotica" einmal mehr die Themen der Suche nach Identität und der Zuflucht in komplexen Ritualen und selbsterrichteten Welten als Schutz vor Orientierungslosigkeit und emotionaler Verlassenheit. (Vgl. auch Artikel "Fremde im eigenen Ich" in fd 2/1992, S. 4.) Die Bewegung des Films bleibt dabei eine konsequent (im weiteren Sinne psycho-)analytische, beginnend mit der Neugier über das Exotische, Verschrobene, vermeintlich Abartige. Wo Zusammenhänge und Wurzeln endlich freigelegt sind, endet "Exotica" unmittelbar. Ohne "Moral", ohne Ausblick, mit dem recht vagen Versprechen, daß zumindest Francis' Leben in eine andere Richtung laufen wird: Eine Babysitterin jedenfalls hat er nicht mehr nötig. Das zutiefst humane Element des Films liegt dabei in der Bedingungslosigkeit der Neugier und der Solidarität, die Egoyan für seine Figuren wachzurufen versteht, ohne jemals in simple Identifikationsangebote zu verfallen.Gewohnt virtuos laufen die stilistischen Fäden zusammen. "Exotisch" heißt hier stets faszinierend und erschreckend zugleich. Das beginnt mit der Ausstattung von Thomas' Zoogeschäft, dessen Lebendigkeit stets etwas Monströs-Überladenenes anhaftet, und setzt sich im Club fort, wo Sinnlichkeit und schnödes Geschäft ohneeinander nicht existieren könnten. Alle Gegensätze scheinen sich in Eric zu treffen, der (von Elias Koteas großartig interpretiert) nicht nur allabendlich dieselben "einzigartigen" Vergnügungen anpreist, sondern dabei - in einer Mischung aus Schmerz und Erregung - die eigene große Liebe "an den Mann" bringt. Ein brillant kalkulierter Film, der stets auf Distanz bleibt, aber kaum kalt lassen kann.