Drama | Belgien/Frankreich/Deutschland 2024 | 106 Minuten

Regie: Jonathan Millet

Ein Überlebender aus dem syrischen Militärgefängnis Saidnaya ist Mitglied einer Gruppe von Exil-Syrern, die in Europa untergetauchte Kriegsverbrecher des Assad-Regimes aufspürt. Als er in Straßburg seinen mutmaßlichen Folterer ausfindig macht, gerät er in einen Konflikt zwischen persönlichen Rachegefühlen und der Notwendigkeit strafrechtlicher Verfolgung. Ein dichter Film, der minimalistischen Spionagethriller, Diasporaerzählung und Überlebensdrama miteinander verbindet und gekonnt eine dynamische Handlung mit einer Voiceover-Ebene ausbalanciert. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LES FANTÔMES
Produktionsland
Belgien/Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Films Grand Huit
Regie
Jonathan Millet
Buch
Jonathan Millet · Florence Rochat
Kamera
Olivier Boonjing
Musik
Lucas Verreman · Yuksek
Schnitt
Laurent Sénéchal
Darsteller
Adam Bessa (Hamid) · Tawfeek Barhom (Harfaz) · Julia Franz Richter (Nina) · Hala Rajab (Yara) · Shafiqa El Till (Hamids Mutter)
Länge
106 Minuten
Kinostart
27.02.2025
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Thriller
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Ein Überlebender des syrischen Militärgefängnisses Saidnaya glaubt einen seiner Folterer in Straßburg wiederzuerkennen.

Diskussion

Es ist der Geruch und die Stimme. Hamid (Adam Bessa) hat seinen Folterer, der ihn im syrischen Militärgefängnis Saidnaya gequält hat, zwar nie gesehen. Und auch der Folterer hat ihn nie gesehen. Als die Gefangenen mit einem elektrischen Kabel und anderen Werkzeugen malträtiert wurden, bekamen sie einen Sack über den Kopf gestülpt. Umso stärker aber haben sich die sinnlichen Eindrücke in Hamids Körpergedächtnis eingeschrieben. Sie sind seine einzige Spur, die ihn zu Sami Hanna, dem Schlächter, führen können.

Das weiße Hemd ist nur geliehen

Hamid ist ein Überlebender. Frau und Tochter hat er im Krieg verloren. Seine Wohnung gleicht einer dunklen Zelle, nicht der Behausung eines Mannes, der plant, sich ein neues Leben in Europa aufzubauen. Wenn er einmal in der Woche mit seiner Mutter skypt, die in einem Flüchtlingslager in Beirut ausharrt, erzählt er im geliehenen weißen Hemd von einem Leben in Deutschland, das nicht existiert. Denn tatsächlich lebt er als Mitglied einer kleinen, im Geheimen operierenden Gruppe von Exil-Syrern, die in Europa untergetauchte Schergen des Assad-Regimes aufspürt, in Straßburg. Er ist dort einem Mann auf den Fersen, der an der Universität ein Chemiestudium aufgenommen hat. Und den er bald an seinem Geruch und seiner Stimme wiederzuerkennen glaubt.

„Schattenjäger“ folgt den Regeln eines minimalistischen Spionagethrillers. Man sieht Hamid bei der Beschattung des Verdächtigen, folgt ihm auf seinen Wegen, nimmt seinen Blick ein. Immer wieder taxiert die Kamera den Rücken des Studenten, seinen Hinterkopf oder seine Hand, die sich gelegentlich schmerzvoll verkrümmt. Warten und Bewegung, Stillstand und Dynamik. Der französische Regisseur Jonathan Millet verzichtet auf Rückblenden und Erinnerungsbilder. Sowohl die erschütternden Zeugenaussagen der Opfer, die Hamid von einer ehemaligen NGO-Mitarbeiterin zugesteckt bekommt, als auch die Unterredungen der Organisation sind nur als Voiceover zu hören. Mit den Mitgliedern der Gruppe, die in verschiedenen europäischen Städten operiert, kommuniziert Hamid über eine Gaming-Plattform, während sich auf dem Bildschirm ein bewaffneter Soldat durch eine kriegsversehrte Häuserlandschaft ballert.

Die Gruppe mahnt zu Vorsicht

Wie ein richtiger Spionagefilm lebt auch „Schattenjäger“ von der Verdichtung der Indizien wie von der Möglichkeit des Irrtums. Hamid hat sich schon einmal in einen falschen Verdacht „hineingesteigert“. Die Gruppe mahnt zur Vorsicht und will ihn nach Deutschland zurückordern, wo der Gesuchte untergetaucht sein soll. Als er den Mann, der Sami Hanna sein könnte, schließlich kennenlernt, wird es für ihn immer gefährlicher. Auch geraten seine persönlichen Rachegefühle und das Gebot strafrechtlicher Verfolgung immer mehr miteinander in Konflikt.

„Der Schattenjäger“ scheint auf den ersten Blick von der Geschichte überholt worden zu sein. In Wahrheit aber kommt er genau zur richtigen Zeit. Als Ende 2025 die mehr als 50 Jahre währende Schreckensherrschaft von Baschar al-Assad kollabierte, gingen auch die Videobilder von der Befreiung des Saidnaya-Gefängnisses durch die Medien. Bis zu 13 000 Gefangene sollen in dem auch als „menschliches Schlachthaus“ genannten Kerker systematisch ermordet worden sein, Tausende kamen durch Hunger, Durst, Folter und Misshandlung ums Leben. Die neuen Machthaber bekunden, gezielt nach Folterschergen des alten Regimes suchen zu wollen.

Gefangen im Dazwischen

Gegen Ende neigt „Schattenjäger“ etwas zu Eindeutigkeit und Hast. Im Gespräch mit Hamid macht der mutmaßliche Folterer Andeutungen auf eine dunkle Vergangenheit und seinen „verloren gegangenen Glauben“. Die NGO-Mitarbeiterin, deren Mann im Gefängnis ermordet wurde, sinnt auf Rache. Millet will die Geschichte rund zu Ende erzählen. Von Straßburg geht es nach Berlin und Beirut und dann nach Paris. Dabei ist der Film mehr als ein klassisch gestrickter Spionagethriller. Die „Jäger“ sind kriegsversehrte, traumatisierte Menschen. Millets Blick auf die Fragilität diasporischer Räume, in denen sich stets auch Anhänger des Regimes versteckt halten könnten, ist beiläufig und doch genau. Überleben bedeutet ein Gefangensein im Dazwischen, eine Existenz im Schattenreich.

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