Der Brutalist
Drama | Großbritannien 2024 | 216 Minuten
Regie: Brady Corbet
Filmdaten
- Originaltitel
- THE BRUTALIST
- Produktionsland
- Großbritannien
- Produktionsjahr
- 2024
- Produktionsfirma
- Andrew Lauren Prod./Three Six Zero/Brookstreet Pic./Killer Films/Lipsync Prod./Intake Films/Yellow Bear Films/Proton Cinema/Carte Blanche/Madants
- Regie
- Brady Corbet
- Buch
- Brady Corbet · Mona Fastvold
- Kamera
- Lol Crawley
- Musik
- Daniel Blumberg
- Schnitt
- Dávid Jancsó
- Darsteller
- Adrien Brody (László Tóth) · Guy Pearce (Harrison Lee Van Buren Sr.) · Felicity Jones (Erzsébet Tóth) · Joe Alwyn (Harry Lee Van Buren) · Raffey Cassidy (Zsófia)
- Länge
- 216 Minuten
- Kinostart
- 30.01.2025
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama | Historienfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
In 70mm gedrehtes Filmepos über einen dem Holocaust entronnenen Architekten, der in den USA mit einem gigantischen Bauwerk seinen Traumata zu entkommen hofft.
Der Anfang ist buchstäblich umwerfend. Die Stimme einer Frau erzählt in Briefform aus dem Off von einem Verhör. Die Briefschreiberin selbst ist das Objekt der scharfen Befragung. Folter wird angedeutet. Die Sprache ist ungarisch; der Brief richtet sich an einen „Laszlo“. Das Verhör könnte sich während des ungarischen Faschismus im Zweiten Weltkrieg ereignet haben, oder irgendwann während des Stalinismus in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Doch plötzlich wechselt die Szenerie: Man sieht nun viel Braun und Grau, sieht einen Mann, sieht mehrere Männer in einem dunklen Raum. Körper und Stimmen drängeln sich, es ist laut, die Atmosphäre bedrängend, unangenehm. Die Kamera taumelt, die Perspektive ist schief und verdreht, das Licht kommt von oben. Dann erst begreift man: Es ist ein Schiff, dessen Deck sich gerade öffnet. Das erste, was zu sehen ist, ist die auf dem Kopf stehende, dann horizontale Freiheitsstatue.
Wird sie je wieder auf ihren Füßen stehen? Das ist eine der Fragen, die sich von nun an durch den Film „Der Brutalist“ ziehen. Schon im ersten Bild wird sie nahegelegt, im verzerrten Blick, den der Protagonist von Amerika einfängt, nachdem nach einer langen Reise die Luke aufgeht. Dazu atonale Musik, modernistische Töne.
Von der Reise ins vermeintliche Licht
„Der Brutalist“ handelt von den Vereinigten Staaten, suggeriert aber zugleich von Anfang an den Zusammenbruch des Mythos „Amerika“. Dem Prolog zufolge ist es eine Reise von der Dunkelheit ins Licht. Doch dieses Licht ist keine Erlösung. Während des gesamten Films wechseln Licht und Dunkelheit, und am Ende des Tunnels wartet bestenfalls Ruhe, aber kein Frieden.
Der Mann, der hier ankommt, ist jener Laszlo des Briefs, Laszlo Toth (Adrien Brody), ein Architekt, der dem Holocaust entronnen ist und mit nichts in der Tasche 1947 nach Pennsylvania kommt. Dort versucht er, einen Platz in der US-amerikanischen Gesellschaft zu erringen.
In wenigen, schnelle Szenen skizziert Regisseur Brady Corbet in den ersten Minuten das 20. Jahrhundert als das Jahrhundert der Einwanderer. Er zeigt Staten Island, provisorische Unterkünfte, streift Prostitution, Ausbeutung und Rassismus. Dann steigt Laszlo in einen der Greyhound-Busse, die die Einwanderer im Land verteilen, und der nächste Abschnitt beginnt.
Der Film ist in eine Ouvertüre, zwei Hauptteile, welche von einer 15-minütigen Pause unterbrochen werden, und einen Epilog gegliedert. Das erinnert an die Unterteilung einer Oper, ähnlich wie der Umgang mit der Zeit, die der Film sich nimmt oder sein epischer Grundton. Auch die mal atonale, mal immersive symphonisch wirkende Musik, die immer ein bisschen zu laut und zu betont eingespielt wird, lässt zusammen mit dem nie verborgenen Kunstwillen Brady Corbet als einen Wagnerianer des Kinos erscheinen. Film ist für ihn wie bei Sergej Eisenstein und Orson Welles ein Gesamtkunstwerk aus höchstem Anspruch, dominiert von musikalischem Denken – Kino als Fortsetzung von Musik mit anderen Mitteln.
Das Rätsel der Ankunft
Der erste Hauptteil, über dessen Beginn die auffallend schönen, in konstruktivistischer Schrift gestalteten Zeilen der Titelsequenz über das Bild wandern, heißt „The enigma of arrival 1947-1952“. Doch dieses Rätsel der Ankunft wird nicht weiter vertieft. Dafür lernt man die Hauptfigur kennen. Laszlo war ein erfolgreicher Bauhaus-Schüler. Durch nur zu erahnende Erlebnisse traumatisiert, fängt er in den USA in bitterster Armut an. Er muss Kohle schaufeln und auf dem Bau arbeiten. Durch einen Zufall entdeckt ihn der Unternehmer Harrison Van Buren (Guy Pearce) als begabten Architekten und fördert ihn mit verschiedenen Aufträgen.
Ist es nur ein Zufall, dass Van Buren den Namen eines US-Präsidenten trägt? Und dass Laszlo Toth eigentlich der Name eines geistesgestörten Mannes ist, der 1972 mit Hammerschlägen die Pièta von Michelangelo schwer beschädigte?
Nachdem Laszlo sich in den Augen seines Förderers bewährt hat, gibt ihm Van Buren den Auftrag seines Lebens, der schnell zu einer Obsession wird. Auf einem Hügel nahe von Van Burens Landsitz soll er ein großes Gemeindezentrum bauen, das auch eine Kapelle enthalten und den Namen von Van Burens Mutter tragen soll – eine Art Mausoleum. Gebaut werden soll es im modernistischen Stil des Brutalismus – so erklärt sich der Titel des Films.
Brutalismus ist die Architektur des Puren und Rohen, mit sehr harten, hohen Betonwänden und voller Kontraste. Da es weder Tapeten noch Holzverkleidung oder gar Plastik und Metall gibt, liegt das Mauerwerk frei da. Das Mammutwerk, an dem Laszlo irgendwo in Philadelphia fast ein Jahrzehnt lang baut, erinnert nicht von ungefähr an das Opernhaus in „Fitzcarraldo“ von Werner Herzog: im Größenwahn des Projekts, in seiner Unmöglichkeit einer Vollendung, aber auch in der Hybris des Erbauers.
Auf der Lohnliste des Kapitalisten
Unschwer lässt sich in diesem Bau und dem, was mit ihm geschieht, auch eine Metapher für die Moderne sehen, jenem „unvollendeten Werk“, wie es der Philosoph Jürgen Habermas beschrieben hat. Im Aufeinandertreffen der denkbar unterschiedlichen Temperamente von Laszlo und Van Buren lassen sich die Repräsentanten dieser Moderne, aber auch deren Dialektik erkennen. Laszlo ist ein Idealist, der zwar durchaus pragmatisch sein kann, doch keine Kompromisse duldet. Er möchte den Traum jedes Architekten erfüllen, einmal alles so bauen zu können, wie er will. Van Buren wiederum ist großzügig, neugierig und offen genug, um den Einwanderer aufzunehmen und ihm viele Möglichkeiten zu eröffnen, diesen Traum zu erfüllen. Aber er kauft sich in Laszlo auch ein menschliches Spielzeug, das auf seiner Lohnliste steht, und in dessen Wünsche er sich nachhaltig einschreibt. Van Buren will Anerkennung als Kapitalist und Mäzen, Laszlo aber als Künstler und Könner. Beide sind zwei Willensmenschen, die den Willen ihres Gegenüber letztlich bezwingen wollen.
Adrien Brody und Guy Pearce haben in diesen Rollen herausragende Auftritte. Während Guy Pearce seine Figur an die größten Kapitalistenfiguren Hollywoods, an den Titelhelden in „Citizen Kane“ und an verschiedene Darstellungen von Howard Hughes anlehnt, und eine Person zeigt, die brutale Härte mit echter Freundlichkeit verbindet und eine dritte Seite sorgfältig zu verstecken trachtet, trägt Adrien Brody seine Figur aus „Der Pianist“ in diese Rolle hinein: ein an Körper und Seele Versehrter, in dessen Gesicht sich Lachen und Weinen zu paaren scheinen.
Nachdem der erste Teil vom Aufstieg Laszlo Toths gehandelt hat, erzählt der zweite Teil, „The Hard Core of Beauty 1953-1960“, von einer Art Abstieg. Zu Beginn kommen Erzsebet und Zsofia, seine Ehefrau und seine Nichte, die in Ungarn zurückgeblieben sind, in die USA nach. Erzsebet ist schwerbehindert und durch Osteoporose an den Rollstuhl gefesselt. Zuvor war von ihnen schon immer die Rede gewesen, doch nun treten sie und mit ihnen die Schatten der europäischen Vergangenheit ins Licht des Films. Bis dahin existierten die Frau und die Nichte nur in der Erinnerung des Architekten und in den Gesprächen. Mit ihnen wird sichtbar, dass Europa in diesem Film als das Verborgene und Unbewusste Amerikas existiert, als das, was es nicht wahrhaben will.
Alles gerät ins Stocken
Das Auftauchen von Erzsebet und Zsofia bringt die Handlung nicht wirklich voran, sondern behindert sie. Zsofia hat für eine Weile die Fähigkeit zu sprechen verloren, ohne dass die Ursache klar würde. Ebenso deutet der Film ihre Erlebnisse im Haus der Van Burens nur an. Laszlos Familie beginnt zunehmend über die gebrochene Utopie aus Fortschritt und Frieden nachzudenken, die im amerikanischen Traum ebenso verkörpert sind wie im Staat Israel, wohin Zsofia schließlich auswandert.
Die Bauarbeiten geraten ins Stocken. Zum Höhepunkt des zweiten Teils wird ein Zugunglück, aber auch die Weise, wie Brady Corbet dieses lange vorher schon andeutet. Das eigentlich Unfassbare in diesem Moment ist aber, dass der Film hier auch die Züge mitdenkt, die zehn Jahre zuvor von überall her nach Auschwitz fuhren, wo die meisten ungarischen Juden vergast wurden, oder nach Buchenwald, wo Laszlo irgendwie überlebte. Die Montage zwischen der Fahrt des Zuges, dem Verschwinden hinter den Wolken, dem Aufblitzen einer Explosion und der Verknüpfung dieser Aufnahmen mit dem Schmerzensschrei von Erzsebet ist einer der Momente, in denen Corbet vollkommen neue Filmmomente kreiert und die deutlich machen, dass „Der Brutalist“ auch ein Film über die Shoa ist.
Erst im letzten Viertel des Films laufen alle Erzählfäden zusammen, und manches wird nun besser verständlich. Eine Reise zu den Marmorklippen von Carrara in Italien und ein sinnliches Abendfest bei den Marmorhändlern, die früher antifaschistische Partisanen waren, leitet den unerhörtesten Moment des Films ein: Ein Tanz und ein Flirt von Laszlo mit einer Tänzerin, den Van Buren von oben beobachtet. Er sieht und spürt, dass er kein Teil von alldem ist, dass er hier in Europa Außenseiter bleibt und sich nicht mit diesen einfachen Menschen verbinden kann. Etwas später bricht sein Ressentiment offen aus und er vergewaltigt Laszlo – und bringt damit die Sexualität als untergründiges Thema von „Der Brutalist“ zum Vorschein.
Die Gegenwart der Vergangenheit
Danach geht alles sehr schnell. Laszlo und Erzebet gestehen sich die bittere Wahrheit ein: „Amerika ist verkommen. Die Landschaft, das Essen, die Menschen. Sie wollen uns hier nicht.“ Wobei „uns“ die Juden meint. So brechen sie mit Van Buren, indem sie ihn sozial bloßstellen, und folgen Zsofia nach Israel nach. Ein Epilog führt schließlich auf die Architektur-Biennale von Venedig 1980 und kontextualisiert den Stil von Laszlo unter der Überschrift „The presence of the past“.
Diese Gegenwart der Vergangenheit ist der rote Faden, der „Der Brutalist“ in seinem Ideen- und Facettenreichtum zusammenhält. Der Film rückt einen jüdischen Protagonisten und seine Traumatisierung ins Zentrum. Er zeigt eine Figur, die nicht mehr heimisch werden kann, weil die Vergangenheit nicht vergehen will, sondern anwesend bleibt oder als verdrängte zurückkehrt. Eine Vergangenheit, die auch in der Moderne anwesend ist, für die Laszlo als Repräsentant steht.
Trotz seiner „modernistischen“ Momente ist der Stil des Films bewusst „klassisch“ gehalten. Gedreht wurde auf VistaVision, dem Paramount-Format der 1950er-Jahre, und auf analogem Filmmaterial, zur Premiere beim Filmfestival in Venedig auf 70 Millimeter uraufgeführt. Auch die Vorbilder sind US-amerikanische Klassiker. Neben offenkundigen Referenzen wie „Citizen Kane“, „Ein Mann wie Sprengstoff“ und „There Will Be Blood“ kann man auch an die Einwanderergeschichten von Elia Kazan, „Bugsy“ von Barry Levinson und Sergio Leones „Es war einmal in Amerika“ denken.
Und dennoch ist „Der Brutalist“ am Ende ein Film, der in der albtraumhaften Dunkelheit Europas wurzelt. Corbets Ehrgeiz, ein kultiviertes, geduldiges und scharfsinniges Epos in einer von Ignoranz und Aufmerksamkeitsdefiziten geprägten Zeit ins Kino zu bringen, ist unverkennbar. Corbet gelingt ein mitreißender Film, der eine Fülle von Themen anspricht und dabei nur oberflächlich betrachtet einen Bogen um die Gegenwart schlägt. Seine konzentrierte Geschichte erzählt von den USA und Europa, von Tatkraft und Intellekt, Hoffnung und Scheitern. Und vom Antisemitismus in den USA.