Jenseits von Schuld
Dokumentarfilm | Deutschland 2024 | 84 Minuten
Regie: Katharina Köster
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2024
- Produktionsfirma
- Trimafilm
- Regie
- Katharina Köster · Katrin Nemec
- Buch
- Katharina Köster · Katrin Nemec
- Kamera
- Tobias Tempel
- Musik
- Cico Beck
- Schnitt
- Miriam Märk
- Länge
- 84 Minuten
- Kinostart
- 19.09.2024
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Sorgfältige Doku über ein Elternpaar, dessen Sohn zum Mörder geworden ist.
Auch Verbrecher haben Familie. Deren Angehörige aber sind eher nicht auf der Leinwand anzutreffen. Vermutlich aus dem simplen Grund, dass die kriminelle Energie und die (gestörte) Psyche eines Täters mehr faszinieren als die Situation seiner Familienangehörigen, insbesondere der Eltern. Just diese Befindlichkeit eines Paares, dessen Sohn zum Mörder wurde, steht jedoch im Fokus von „Jenseits von Schuld“.
Wie fühlt sich das an, wenn das eigene Kind eine unverzeihliche Tat begangen hat, haben sich die Filmemacherinnen Katharina Köster und Katrin Nemec gefragt. Darf und kann man so ein Kind noch lieben? Und wenn ja: Wie sieht diese Liebe aus und wie lässt es sich damit leben?
Das Davor und das Danach
Gedreht wurde „Jenseits von Schuld“ in den Jahren 2020 bis 2023, teilweise mit größeren Unterbrechungen. Vor der Kamera standen fast ausschließlich Ulla und Didi Högel. Sie sind Eltern von Niels Högel, einem Krankenpfleger, der 2005 bei einem Mordversuch an einem Patienten auf frischer Tat ertappt wurde. Fast zwanzig Jahre ist bekannt, dass Niels Högel zwischen 1999 und 2005 in zwei deutschen Krankenhäusern Hunderte von Mordversuchen und Morde begangen hat. Von den Untaten ihres Sohnes haben die Eltern erstmals während eines Ferienaufenthalts in der Türkei erfahren; seit diesem Moment zerfällt ihr Leben in ein Davor und ein Danach.
In der Zeit davor waren der ebenfalls als Krankenpfleger arbeitende Vater und seine bei einem Rechtsanwalt angestellte Mutter Eltern eines Sohnes, den sie nicht anti-autoritär, aber doch mit gewissem Freiraum erzogen haben. Der Sohn trat in die Fußstapfen seines Vaters, heiratete und wurde seinerseits Vater. In der Zeit danach sitzt der Sohn hinter Gittern. Er ist mehrfach verurteilt. Ab und zu wird im Zusammenhang mit seinem Fall ein neuer Prozess aufgerollt, der weitere Fakten ans Licht spült.
Seine Frau und seine Tochter sind aus seinem Leben verschwunden. Die Eltern aber haben beschlossen, zu ihrem Sohn zu stehen und ihn zu unterstützen, soweit es ihnen möglich ist. Dies, obwohl sie sich bis heute nicht erklären können, wie aus dem aufgeweckten Knaben, den man im Film auf Familienfotos, Dias und privaten Filmen sieht, ein Mörder werden konnte.
Es fehlt das Gefühl von Sicherheit
In „Jenseits von Schuld“ fallen das Davor und Danach oft unmittelbar ineinander. Der Film spielt zu großen Teilen in Didis und Ullas Wohnung, an einem vom Paar wiederholt zum Spazieren aufgesuchten Strand und im Auto auf dem Weg zu einem der wenigen Besuche im Gefängnis. Der erwachsene Sohn wird im Film nicht mit Gesicht gezeigt und seine Taten werden nur insoweit thematisiert, als sie im Gespräch zwischen den Eltern anklingen oder in einem der Telefonate zum Thema wird, die er mit seinen Eltern führt.
In einem der wenigen gelösteren Momente, die es in „Jenseits von Schuld“ gibt, erklärt Ulla auf dem Heimweg von einem längeren Gefängnisbesuch, dass man beim Zusammensein mit dem Sohn nicht immer von diesen Untaten reden könne. In diesen Moment sagt sie, sei das Gefühl der früheren Vertrautheit plötzlich wieder da.
Grundsätzlich aber unterscheidet sich das Leben danach auch nach fast zwanzig Jahren noch stark von demjenigen davor. Ulla ist das Gefühl der Sicherheit abhandengekommen. Sie ist, kurz nachdem sie von Niels Vergehen erfuhr, in den Alkoholismus gerutscht, hat mit Hilfe von Psychopharmaka und einem Coaching inzwischen aber wieder Tritt gefasst. Doch sie ist dünnhäutiger als früher, bricht nach einem Telefongespräch in Tränen aus und zieht sich zurück. Didi scheint die Situation auf den ersten Blick gelassener anzugehen. Doch auch er, der nach wie vor als Krankenpfleger arbeitet, ist angeschlagen. Die Anspannung und der vor allem nach Telefonaten mit seinem Sohn oft neu aufflammende Stress schlagen ihm aufs Herz. Er braucht Luft und Bewegung, muss raus aus der Enge der Wohnung, die für die Eltern ein gewisser Schutzraum, aber zugleich auch eine Art Gefängnis ist.
Zwei mutige, gütige Menschen
Das alles, sagt Didi, zerre unheimlich an einem. Dennoch wollen Ulla und Didi ihr Leben aufrecht durchstehen. So, wie sie vor einigen Jahren nach reiflichem Nachdenken beschlossen haben, ihren Namen und auch ihren Wohnort nicht zu ändern, haben sie auch zugestimmt, in dem Film mitzumachen. Sie lassen die beiden Regisseurinnen in ihre privaten Räume, erzählen vor laufender Kamera ihre Geschichte als Eltern und schildern ihre Befindlichkeiten. Obwohl sie dadurch aufs Neue aufgewühlt werden, kramen sie in „Jenseits von Schuld“ die Spielzeuge ihres Sohnes hervor und schauen Fotos aus früher glücklichen Zeiten an.
Die Geschichte von Ulla und Didi ist die zweier mutiger und gütiger Menschen, denen urplötzlich der Boden unter den Füssen weggebrochen ist. Ihr Leben fühlt sich seitdem wie eine endlose Achterbahnfahrt an, bei der man nie sicher sein kann, ob der Wagen in der nächsten Steilkurve nicht doch aus der Bahn geworfen wird. Wenn sich Ulla stark fühlt, kann sie ihrem Sohn am Telefon schon mal widersprechen; wenn nicht, ist ihr alles zu viel. Grundsätzlich aber lebe sie gerne. Und wenn sie sich zusammen mit Didi vor den Fernseher setzt, um in einer Nachrichtensendung oder Dokumentation mehr über ihren Sohn und dessen Fall zu erfahren, behält sie sich vor, abzubrechen, wenn es für sie unerträglich wird.
Die beiden Filmemacherinnen nähern sich den Protagonisten rücksichtsvoll, schrecken aber nicht davor zurück, auch in emotional hektischen Momenten die Kamera laufen oder das Filmsetting sichtbar werden zu lassen. Ab und zu ist aus dem Off auch eine von ihnen leise gestellte Bitte zu hören, wenn die Protagonisten etwas genauer ausformulieren sollen. Die im Titel anklingende Frage nach einer allfälligen Mitschuld der Eltern, welche Ulla und Didi durchaus streifen, wird von den Regisseurinnen eher nicht gestellt, schwingt generell aber mit.
Für den Rest ihres Lebens
Wie ungeheuerlich es sich anfühlt, wenn ein Kind, das man in bester Absicht zu einem verantwortungsvollen Menschen erzogen hat, sich eines Tages als Mörder entpuppt, lässt sich erahnen, wenn man den Erzählungen von Didi und Ulla lauscht und dabei begreift, dass sie als Eltern in gewisser Weise ebenfalls Opfer ihres Sohnes sind. „Jenseits von Schuld“ ist ein kluges, sorgfältig inszeniertes und gleichwohl aufwühlendes Porträt, das danach fragt, wie weit elterliche Liebe gehen kann und darf. Ihre Antwort darauf müssen Ulla und Didi für den Rest ihres Lebens wohl immer wieder neu überdenken. Als Zuschauer aber hofft man inständig, dass man sich diese Frage selbst nie stellen muss.