Das leere Grab
Dokumentarfilm | Deutschland/Tansania 2024 | 102 Minuten
Regie: Agnes Lisa Wegner
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland/Tansania
- Produktionsjahr
- 2024
- Produktionsfirma
- Kurhaus Prod./Kijiweni Prod.
- Regie
- Agnes Lisa Wegner · Cece Mlay
- Buch
- Agnes Lisa Wegner
- Kamera
- Marcus Winterbauer
- Musik
- Hannah von Hübbenet
- Schnitt
- Donni Schoenemond
- Länge
- 102 Minuten
- Kinostart
- 23.05.2024
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Dokumentarfilm über zwei Familien aus Tansania, die sich auf die Suche nach den Überresten ihrer Vorfahren machen.
Das Deutsche Kaiserreich war im Gegensatz zu den Seefahrer-Nationen Portugal, Spanien, Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden nur für einen relativ kurzen Zeitraum eine Kolonialmacht. Lediglich von 1885 bis 1918 standen Gebiete in Afrika und Asien unter deutscher Herrschaft. Doch diese kurze Zeit reichte aus, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen, die bis heute im Gedächtnis der Völker geblieben sind.
So kämpfte im sogenannten „Maji-Maji-Krieg“ (1905-1907) die Bevölkerung im heutigen Süd-Tansania gegen die deutsche Kolonialherrschaft. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. Die Zahlen der ermordeten Einheimischen schwanken zwischen 70.000 und 300.000. Einer von ihnen war Songea Mbano. Nach seiner Bestattung wurde sein Grab geschändet; sein Schädel wurde vom Körper getrennt und nach Deutschland verbracht. Die Familie von Songea Mbano lebt deshalb seit mehr als 115 Jahren im Zustand eines niemals endenden Begräbnisses, denn die Seele des Verstorbenen kann in der Vorstellung der Menschen keinen Frieden finden.
Zwei Fälle von vielen
Es gab schon mehrere Versuche, den verschwundenen Schädel zu finden. Der Rechtsanwalt John Makarius Mbano, ein Urenkel des Verstorbenen, übernimmt als nächster den Auftrag. Er will die Trauer nicht an seine Kinder weitergeben. Auch die Familie Kaaya aus dem Norden Tansanias lebt in Ungewissheit. Ihr Vorfahre Mangi Lobulu Kaaya wurde im Jahr 1900 öffentlich auf dem Marktplatz gehängt, als einer von 18 Widerstandskämpfern. Sein Leichnam wurde geraubt. Die Stricke hängen noch; sie sind Teil einer Gedenkstätte. Zwei Schicksale, zwei von Deutschen ermordete Menschen, zwei von vielen. Ihre Gebeine wurden angeblich zu Forschungszwecken nach Deutschland gebracht.
Der Film „Das leere Grab“ von Agnes Lisa Wegner und Cece Mlay nimmt die Position der afrikanischen Familien ein. Er folgt dem Blick der Opfer und versucht für die Grausamkeiten zu sensibilisieren, die unter deutscher Herrschaft begangen wurden. Im Mittelpunkt stehen dabei die Bemühungen, die verschwundenen Gebeine der Toten zu finden und in ihre Heimat zurückzubringen. In Deutschland, aber auch in Afrika, erweist sich dabei vor allem die Bürokratie als Hemmschuh. Als Mittler fungiert Mnyaka Sururu Mboro, ein tansanischer Aktivist, der seit 40 Jahren in Deutschland lebt und für die Herausgabe der sterblichen Überreste von Menschen und ihrer Kulturgüter kämpft. Sie sind heute ordentlich nummeriert und katalogisiert und in Archiven und Lagern verwahrt. Mboro wird von dem Medienkünstler Konradin Kunze unterstützt. Seitdem er weiße Mitstreiter hat, erzählt Mboro, öffnen sich für ihn Türen, die ihm als Einzelkämpfer oftmals verschlossen blieben.
Die Bilder wechseln zwischen Berlin und Afrika und vermitteln einen Eindruck vom Alltagsleben der Familie Mbano, aber auch von Gottesdiensten und Ritualen. Später kommt etwas abrupt die Familie Kaaya dazu, über die man deutlich weniger erfährt. Die Kamera bleibt durchgängig in der Rolle des Beobachters; die Filmemacherinnen treten selbst nicht in Erscheinung. Zusätzlich gibt es einige Animationen, Archivbilder und Originalfotos, die das Geschehen illustrieren.
Familiengeschichte & Staatsdrama
Im Verlauf von „Das leere Grab“ entwickelt sich eine Familiengeschichte zu einer politischen Affäre. John Makarius Mbano und seine Frau Cesilia reisen nach Berlin, wo sie mit Hilfe von Aktivisten Zugang zum Archäologischen Archiv erhalten. Eine deutsche Regierungsvertreterin sichert ihnen unbürokratische Hilfe zu. Parallel dazu gibt es auch Fortschritte bei der Familie Kaaya. Das Skelett ihres Urgroßvaters wurde gefunden; jetzt geht es um die Herausgabe. Der Besuch des Bundespräsident Frank Walter Steinmeier in Tansania markiert den optimistischen Höhepunkt des Films. Er besucht die Gedenkstätte des Maji-Maji-Krieges, spricht mit Opferfamilien und bittet im Namen des deutschen Volkes um Entschuldigung für die Gräuel der Kolonialzeit. Doch sein Besuch, bei dem auch die Familie Mbano sowie Mnyaka Sururu Mboro und Konradin Kunze anwesend sind, bleibt eine Episode ohne sichtbare Folgen. Der Schädel des Großvaters ist weiterhin verschwunden, und das Skelett von Mangi Lobulu Kaaya wird nicht herausgegeben.
Was die Gestaltung und den Inhalt des Films betrifft, steht die Information an zweiter Stelle. Der Film setzt primär auf die Emotionalisierung des Themas und auf den Appellcharakter seiner Aussagen. Das macht ihn zu einer etwas altmodischen Agitprop-Doku, aber auch zu einer Art Versuchsanordnung. Die wesentliche Frage von „Das leere Grab“ lautet nämlich nicht: Was ist damals eigentlich passiert? Sondern: Was macht diese Art von Trauer und die unbewältigte Vergangenheit mit den Nachfahren der Opfer? Wenn John Makarius Mbano und sein kleiner Sohn die Höhle besuchen, in der sich der Großvater vor den Deutschen versteckte, ist das nicht nur berührend, sondern zeigt auch, wie die Trauer von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Der Gedanke der Restitution, also der Wiedergutmachung von Schäden, die durch Verletzungen des Völkerrechts entstanden sind, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weltweit durchgesetzt. Häufig bleibt es allerdings beim Gedanken, dem kaum Taten folgen. Zumindest aber wurde ein Zeichen gesetzt, so etwas wie ein Doppelpunkt, eine Ankündigung, dass es bald weitergeht. Dafür steht auch „Das leere Grab“: Ein Anfang ist gemacht.
Sich mit den Gräueln beschäftigen
Das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen ist noch kaum verbreitet. Doch wenn Mnyaka Sururu Mboro vor einer Schulklasse in Berlin darüber spricht, dann empfinden die Kinder nicht nur Scham angesichts der Taten ihrer Vorfahren, sondern setzen sich intellektuell und emotional mit einer Thematik auseinander, die bisher eine ziemlich untergeordnete Rolle spielt. „Das leere Grab“ will diese Lücke schließen. Auch das macht den Film zu einem wichtigen Beitrag in der Aufarbeitung von Kolonialverbrechen.