Eine junge Frau namens Sarah geht auf einen Jahrmarkt, doch alles dort ist extrem laut und bunt. Sarah, die sich mit einer Art Selfie-Cam aufnimmt, empfindet Reizüberflutung, schwitzt und verspürt eine innere Unruhe. Sie ist eine der sechs erwachsenen Protagonistinnen, die in dem Dokumentarfilm „Sick Girls“ ihr Leben mit ADHS beschreiben. ADHS bezeichnet eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, wird häufig bei Kindern im Grundschulalter diagnostiziert, kann aber auch im Erwachsenenalter fortbestehen. Auch die Regisseurin des Films, Gitti Grüter, meint, an ADHS zu leiden und hat sich mit weiteren fünf Frauen zu einer Selbsthilfegruppe zusammengeschlossen. Parallel dazu dokumentiert sie die Gespräche, die sie mit einem Psychiater führt – zunächst in der Online-Sprechstunde, später dann in seiner Praxis.
Die Frauen werden allmählich vorgestellt, reden in Einzelgesprächen oder zu mehreren darüber, welche Hürden sie im Alltag meistern müssen und welche Ängste sie haben. So fürchtet sich die alleinerziehende Iris am meisten davor, dass sie in der Psychiatrie landen und man ihr die Kinder wegnehmen könnte. Offenbar ist ADHS auch erblich, denn sowohl die Kinder von Iris als auch der Sohn von Nadja leben ebenfalls mit der Störung. Nadja musste ihren Sohn in eine Einrichtung geben, weil sie nicht mehr mit ihm und ihrer eigenen Situation zurechtkam. Zwar plagten sie damals Gewissensbisse, doch heute weiß sie, dass es so besser für ihn war. Heute hat er eine Lehrstelle und lebt sein Leben.
Lieber in einem eigenen Raum
Die Protagonistinnen werden zuweilen in ihre eigenen vier Wände begleitet, damit man ein Gespür für ihre Lebensumstände – mit oder ohne Familie – entwickelt. Auch an ihren Arbeitsplätzen sieht man einige agieren. Nadja arbeitet in ihrem Büro lieber in einem eigenen Raum, damit sie nicht abgelenkt wird und andere nicht ablenkt. Denn Hyperaktivität, gestörte Konzentrationsfähigkeit und Impulsivität sind typische Symptome bei ADHS.
Quin wiederum arbeitet in ihrem Studio mit Tönen, die sie in der Natur aufnimmt und mit Musik mischt. Sie möchte ADHS in ihrem Leben nicht missen, nimmt sich so an, wie sie ist. Zwar seien die seelischen Höhen und Tiefen schmerzlich, doch man könne viel daraus lernen. Die Gespräche in der Selbsthilfegruppe finden offenbar in ihrem Studio statt und tun den Frauen gut, da sie sich über ihre Erfahrungen und Gemeinsamkeiten austauschen können, ohne viel Erklärungsarbeit zu leisten, wie es mit Nichtbetroffenen der Fall wäre.
Untereinander trösten die Frauen sich
So kommt ebenfalls zur Sprache, dass es für die Frauen schwierig ist, dauerhafte Partnerschaften zu führen. Die Regisseurin etwa ist bereits Mitte dreißig, hatte aber noch überhaupt keine richtige Beziehung. Auch einige ihrer Freundschaften sind zerbrochen: wegen ihrer Sprunghaftigkeit oder weil die sogenannten Normalen sich nicht auf sie einlassen wollten? Untereinander trösten die Frauen sich, doch meistens feiern sie ihre Treffen als fröhliches Beisammensein, bei dem es lustig, laut und herzlich zugeht. Wenn man den Frauen in den Gesprächen zuhört, erlebt man als Außenstehende/r deren Anderssein nur durch den Inhalt ihrer Ausführungen.
Sie berichten anschaulich, mitunter lebhaft, aber nie inkohärent und ohne den Faden zu verlieren. Nur in der Sequenz ziemlich zu Anfang, als Sarah den Jahrmarkt besucht, unterstreichen visuelle und akustische Mittel ihre Unruhe. Die Kamera wackelt, der Ton ist extrem laut und vermittelt so einem Publikum, wie Menschen mit ADHS sich in gewissen Situationen fühlen. Auch die junge Hannah, die Sonderschullehramt studiert, wirkt stets sachlich und gelassen. Sie will in ihrem Beruf den Schwerpunkt auf die potenzielle Andersartigkeit von Kindern legen.
Wie unterschiedlich sich Symptome äußern
Anhand der verschiedenen Persönlichkeitsprofile der sechs Frauen wird klar, wie unterschiedlich sich ADHS-Symptome äußern können. Auch der Leidensdruck ist bei den Frauen verschieden ausgeprägt. Die meisten nehmen mehr oder weniger durchgehend Medikamente und haben gute oder schlechte Erfahrungen mit Ärzten oder psychiatrischen Einrichtungen gemacht. Alle stehen dennoch im Alltag ihre Frau, auch wenn das Funktionieren für die Gesellschaft sie manchmal einengt. Immer müssen sie sich in Gesellschaft unter Kontrolle haben, da Außenstehende Anfälle von Impulsivität oder andere nichtkonforme Verhaltensweisen nicht verstehen würden.
Dass die Diagnose ADHS mitunter sehr schwer zu stellen ist, muss auch die Regisseurin feststellen, für die der Film auch eine Suche nach sich selbst ist. Trotz des Ausfüllens ausführlicher Fragebögen und mehrerer Gespräche mit dem Psychiater, zu denen auch ihre Mutter per Telefon zugeschaltet ist, kann dieser sich nicht dazu durchringen, ihr eindeutig ADHS zu attestieren. So kann und will auch der Film keine definitiven Antworten geben. Stattdessen stellt er die Definition von Normalität in Frage und gibt ADHS ein sehr persönliches Gesicht in Gestalt von sechs Frauen, die anrührend und sympathisch wirken. Sie haben ihre Stärken und Schwächen und kommen – wie alle Menschen – mal mehr und mal weniger gut mit ihrem Leben klar.