Die Amitié
Drama | Deutschland 2024 | 102 Minuten
Regie: Ute Holl
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2024
- Produktionsfirma
- Fuenferfilm/Holl-Ott Medien
- Regie
- Ute Holl · Peter Ott
- Buch
- Ute Holl · Peter Ott
- Kamera
- Jörg Gruber
- Musik
- Ted Gaier
- Schnitt
- Ute Holl · Peter Ott
- Darsteller
- Sylwia Gola (Agnieska) · Yann Mbiene (Diedonné) · Christoph Bach (Carsten) · Aziz Çapkurt (Ousmane) · Walter Hess (Siegfried)
- Länge
- 102 Minuten
- Kinostart
- 21.03.2024
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Experimentelles Sozialdrama um eine polnische Pflegerin und einen ivorischen Erntehelfer, die sich über eine mysteriöse App für Migranten näherkommen.
Im Bus nach Lübeck begegnen sich die beiden jungen Arbeitsmigranten Dieudonné (Yann Mbiene) und Agnieszka (Sylwia Gola). Die polnische Altenpflegerin soll sich in einem vergreisten Villenviertel um Siegfried (Walter Hess) kümmern, den an Demenz erkrankten Vater des Kunstprofessors Carsten (Christoph Bach). Der ivorische Ökonom Dieudonné beginnt einen Job als Hilfskraft in einer Großgärtnerei für Biotomaten.
Agnieszka hat von ihrem christlichen Orden den Auftrag erhalten, ihre Patienten zu missionieren. Wo der Geist schwindet, so das Motto, entsteht Platz für den Glauben. Aber auch Dieudonné ist auf geheimer Mission. Er sammelt Daten und scannt die Umgebung für eine KI-gesteuerte App namens „Die Amitié“, die die persönlichen Erfahrungen legaler und illegaler Migrant:innen nutzt, um den „Subalternen“ zu helfen: den Geflüchteten, Unterdrückten und Benachteiligten. Die App soll ihnen Fluchtwege eröffnen und sie generell dabei unterstützen, einen Unterschlupf zu finden, Arbeit zu erhalten und Geld in ihre Heimatländer zu transferieren. Wer da am Ende wohl wen bekehrt?
In Minuten eine Fremdsprache lernen
Über diese simple Frage hinaus entwickelt der Film „Die Amitié“ die interessante Grundidee eines sich aus individuellen Flucht- und prekären Arbeitserfahrungen speisenden Netzwerks inhaltlich aber kaum weiter. Via App erhalten Dieudonné und später auch Agnieszka Anweisungen, wie sie illegal Geflüchteten helfen können. Außerdem beherrschen sie mithilfe der KI innerhalb nur weniger Minuten fließend eine neue Sprache. Ansonsten aber dominieren experimentell anmutende Erzähltechniken die Inszenierung. Die fiktiven VR-Bilder, die entstehen, wenn Dieudonné oder Agnieszka ihre Handys mit Hilfe einer simplen Vorrichtung zu einer VR-Brille umrüsten, erinnern mit ihren grobpixeligen Aufnahmen an die Anfänge des Heimcomputerzeitalters.
Jenseits der VR-Welt rückt die Kamera den Figuren in frontalen Close-ups oftmals derart zu Leibe, als gälte es, mit roher Wucht die vierte Wand zu durchbrechen. Auch das vermeintlich Echte wirkt gekünstelt.
In der lustigsten Szene des Filmes sitzt Carsten, der an einer Kunsthochschule in Stuttgart ästhetische Theorie unterrichtet, mit einem halben Dutzend Studierender in der Mitte eines riesigen Saals, an dessen Wände meterhohe Gemälde hängen. Während er das Seminar über postkoloniale Theorie damit eröffnet, dass er den Anfang von „Can the Subaltern Speak?“ von Gayatri Chakravorty Spivak vorliest, trödelt ein weiterer Student herein. „Einige der radikalsten Kritiken, die heute aus dem Westen kommen“, zitiert Carsten aus Spivaks Aufsatz, während sich der Nachzügler gemächlich hinsetzt und die FFP2-Maske abzieht, „sind das Ergebnis eines interessierten Begehrens, das Subjekt des Westens oder den Westen als Subjekt zu erhalten.“ Beschwingt fragt Carsten anschließend in die Runde: „Was ist dieses Subjekt? Fangen wir mal damit an.“ Schweigen. Es ist, als würden sich alle totstellen. Niemand blickt auf, niemand regt sich oder gibt auch nur einen Laut von sich. Irgendwann hallt ein tiefer Seufzer durch den Saal. „Irgendjemand?“, hakt Carsten nach. Niemand.
Der Widerspruch von Theorie und Praxis
Lustig ist diese Szene, weil sie so gut zur Figur des von Christoph Bach rast- und haltlos verkörperten Akademikers passt, der den Perspektivwechsel hin zu den „Subalternen“ lehrt und gleichzeitig seinen an Demenz erkrankten Vater zuhause in Lübeck von einer polnischen Pflegekraft betreuen lässt, die er mit herablassender Jovialität und kühler Geschäftsmäßigkeit kommandiert. Er bemerkt das nicht einmal, da sich letztlich alles nur um ihn und seine Laufbahn dreht. Das betretene, peinliche, langanhaltende Schweigen im Kunstseminar ist komisch, weil es dem Widerspruch aus Theorie und Praxis entspringt; einer von den akademischen Eliten des Westens vereinnahmten Theorie, die in den Weiten des selbstgerechten Alltags wirkungslos verpufft.
Lustig ist die Szene auch, da sie wie ein selbstironischer Kommentar des intellektuellen Gespanns wirkt, das mit Peter Ott und Ute Holl das Zentrum des „Kollektivs Amitié“ bildet, die für Regie und Drehbuch verantwortlich zeichnen. Ott hat eine Professur an der Merz Akademie in Stuttgart, Holl ist Professorin für Medienästhetik an der Universität Basel. Die Selbstironie funktioniert selbst dann noch, wenn man diese biografischen Hintergründe nicht kennt und das zum systemkritischen Manifest überhöhte Presseheft nicht gelesen hat. Denn auf Dauer kann auch der Film den dozierenden Gestus nicht verbergen, in dem er produziert wurde.
Immerhin wirken einzelne Momente, die scheinbar einfach nur vom Leben erzählen, lebendig und echt, berührend, witzig oder traurig. Etwa wenn der von Walter Hess mitreißend gespielte Siegfried sich an etwas erinnert und begeistert davon erzählt, aber immer mehr in Details abdriftet, bis er schließlich ganz den Faden verliert, während die Pflegerin ihn behutsam mit einem sanften Lächeln und verständnisvollen Worten auffängt.
Sperrig, kantig, gewollt
Allerdings enden diese Momente ebenso abrupt wie Siegfrieds Erinnerungen. Die Filmerzählung zerfasert ähnlich wie die Gedanken und das Bewusstsein des Demenzkranken in Fragmente und Bruchstücke, die sich kaum ineinanderfügen. Diese strukturelle Parallele ist vermutlich kein Zufall ist, sondern beabsichtigt und gewollt. Die Rollen des erstklassig besetzten und durchweg überzeugenden Ensembles werden ebenso gezielt mit Stereotypen und Klischees überfrachtet wie die krude collagierten Handlungsstränge. Überall lugen Hommagen hervor oder Anspielungen: die Sozialsatire aus „Parasite“, Herbert Achternbuschs Absurditäten, Brecht’sche Verfremdungstechnik, der „Tod des Autors“ von Roland Barthes. Spielerisch wirkt hingegen nichts. Alles ist gewollt - und verkopft. Auch das scheinbar Anarchische ist sorgfältig geplant. Gerade deshalb geht es am Ende nicht auf, sondern bleibt sperrig, kantig und rudimentär.
Dass das nicht allen gefällt, ist Ott und Holl durchaus bewusst. Prophylaktisch lassen sie den als Taxifahrer durch die Geschichte irrlichternden Tod am Ende über die Lücken und Widersprüche des Drehbuchs schimpfen. Ob das ein selbstironischer Kunstkniff auf der Metaebene ist oder bloß ein letzter prätentiöser Versuch, die missglückte Dramaturgie zu retten? Vielleicht beides.