Mein Satz
Drama | Österreich 2022 | 85 Minuten
Regie: Amina Handke
Filmdaten
- Originaltitel
- MEIN SATZ
- Produktionsland
- Österreich
- Produktionsjahr
- 2022
- Produktionsfirma
- FAD
- Regie
- Amina Handke
- Buch
- Amina Handke
- Kamera
- Marianne Andrea Borowiec
- Musik
- Sabine Marte · Oliver Stolz
- Schnitt
- Amina Handke
- Darsteller
- Libgart Schwarz (Ich) · Helga Illich (Therapeutin) · Caroline Peters (Stylistin) · Amina Handke (Tochter) · Markus Achatz (Autor)
- Länge
- 85 Minuten
- Kinostart
- 20.07.2023
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama | Experimentalfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Metafiktionale Auseinandersetzung der Künstlerin Amina Handke mit dem von ihrem Vater Peter Handke verfassten Theaterstück „Kaspar“ und dem Diktat der Sprache.
Amina Handkes „Mein Satz“ ist eine freie Adaption des 1967 verfassten Theaterstückes „Kaspar“ ihres Vaters, Peter Handke. In der Hauptrolle verkörpert Libgart Schwarz, die Mutter der Filmemacherin, eine Frau, die während der Proben zur Aufführung eben jenes Stückes ihre Sprache verliert. Fortan lässt sich kaum mehr sagen, wann sie Sätze aus dem Stück spricht und wann ihr die eigenen Sätze entgleiten. Wie einer der unzähligen Menschen, die den Kontakt zur schnell an ihnen vorbeirauschenden Welt verlieren, steht sie zu Beginn des Films in der Stadt und versteht nicht mehr, weiß nicht mehr weiter. Hier beginnt die von Peter Handke so benannte Sprachtortur, die im Verlust oder Nicht-Vorhandensein der üblichen Sätze, die aus einem sozialisierten Mund kommen, eine Verlorenheit bedeutet, viel mehr noch aber ein anarchisches Aufbegehren, eine mögliche Flucht aus dem Terror vorgegebener Sätze, Slogans und Parolen.
Wer will, kann sich dieses Ausbleiben der Sprache medizinisch erklären, aber darum geht es dem Film keineswegs. Stattdessen adaptiert und transformiert Amina Handke die den Theaterrealismus angreifenden Fragmente, aus denen das Stück ihres Vaters eine famose, weil aufbegehrende Ohnmacht filterte. Das ist ungewöhnlich in einem Kino, das von Narrativen überschwemmt wird, und gerade deshalb von Bedeutung.
Kaspar Hauser ist überall
Amina Handke lässt ihre Protagonistin Sätze sprechen, die gerade deshalb sinnvoll sind, weil sie keinen Sinn ergeben. So verliert sie hier die kausalen Zusammenhänge, dort die Betonung, und dann ließe sich ein solcher Satz ja auch von hinten nach vorne sprechen. In einigen schönen Einstellungen der sich lose an einem körperlichen Zerfall orientierenden Handlung trifft diese weibliche Kaspar-Hauser-Figur auf einige Kinder, eine ziemlich schöne Idee der Filmemacherin, denn so wird sichtbar, wie das, was wir als Sprache verstehen, eigentlich nur ein gemaßregelter Fetzen des eigentlichen Sprachpotenzials der Menschen ist. Die Jungen und die Alten zeigen, dass man auch ganz anders sprechen könnte. Dieser Kaspar Hauser ist also überall. Das ist keine Figur, die sich irgendwer überlegt hat. Das ist jemand, den es gibt, der jeden Tag unter uns geht und nicht weiß, was all diese Worte bedeuten sollen, die ihr entgegenkommen, die er gezwungen wird, zu äußern.
Zudem fragt Amina Handke, die ihren Film in kleine Vignetten gliedert und sich so spielerisch durch die Vorlage manövriert, wem die Sätze gehören, die wir sprechen. In ihrem Fall betrifft das den großen Schatten, den ihr berühmter Vater wirft. In der Konzentration auf Sprache und die Theatervorlage windet und sträubt sich der Film, um das Bewusstsein für das eigene Medium nicht zu verlieren. Indem Amina Handke einen Film dreht, statt einen Text zu schreiben oder ein Theaterstück zu inszenieren, droht dieser, von der Sprache des Vaters erstickt zu werden. Genau in dieser Reibung, die abstrakt erscheinen mag, aber die eigentliche Essenz künstlerischen Schaffens berührt, liegt der nachhaltige Wert des Films. Dieses von Stück und Film so genau erarbeitete Diktat der Sprache und der damit einhergehenden Narrationen betrifft ja gerade heute das Kino. Das Vertrauen in Bilder wird Jahr für Jahr weiter erschüttert und ausgerechnet Worte, die größten Lügner von allen, werden oft kaum hinterfragt. So gibt es in „Mein Satz“ wiederholt Szenen, in denen sich einzelne Einstellungen zueinander verhalten wie aus der Reihe gefallene Wörter. Das Bruchstückhafte und Filmzitiererische des Films lässt sich als beständiges Zerfallen der kinematographischen Sprache analog zur gesprochenen oder verschriftlichten Sprache verstehen. Aber darin liegt womöglich auch ein Trugschluss, schließlich setzen sich Bilder und Töne anders zusammen als Sätze und Wörter.
Verloren im Wirrwarr der Welt
Die Protagonistin lebt in einem Haus aus Sätzen, aber sie stolpert auch, wenn gar nicht gesprochen wird. Sie sitzt mit einem T-Shirt in der Wohnung. Auf dem T-Shirt steht „Du You“ geschrieben. Diese Frau verkörpert letztlich eine an Jacques Tati erinnernde Verlorenheit im Wirrwarr der Welt, wobei sich der Film nicht festlegen kann und möchte, ob dieses Chaos rein sprachlich ist oder ob es, wie in der ersten Szene des Films an einem Ticketautomaten der Wiener Linien, ein allgemeines Symptom der politischen Instrumente der Ordnungsschaffung ist, zu der Sprache gehört. Hier entsteht ein Riss in der Darstellung zwischen dem Filmischen, Theatralen und Sprachlichen, der schwer zu überwinden ist. Das Filmische ist hier vor allem eine Gelegenheit des Ausdrucks, indem auf verschiedenen Ebenen ein Verhältnis zu Text, persönlicher Geschichte, Fiktion und dem Dokumentarischen ausgehandelt wird.
Der Film also zeigt die Arbeit am Text, zeigt aber auch den verfilmten Text. Immerhin wird so etwas sichtbar, was viel zu selten beachtet wird: Das Gewicht des Einflusses derer, die vor uns kamen, die wir bewundern oder, wie hier, die unsere Väter und Mütter sind. Die Epigonen werden von Amina Handke so zurück zu ihrer eigentlich heldenhaften Bedeutung geführt, nämlich des mythologischen Weiterführens und siegreichen Beendens der Kriege der Väter. Die Überführung von Peter Handkes Kaspar-Hauser-Figur in den Körper einer älteren Frau, die auch noch die Mutter der Filmemacherin und Ex-Frau des Autors ist, ist ein solcher Triumph, der auf den Gedanken des Vaters aufbaut und auf neue, fruchtbare Felder führt. Heute wird das Wort „epigonal“ jedoch eher abwertend gebraucht. Es gilt jenen, die nachahmen und keine eigenen Ideen verfolgen. Aber was wären denn eigene Ideen?
Offene und befreiende Auseinandersetzung
Genau nach diesem Eigenen sucht Amina Handke, indem sie sich ganz offen und sogleich befreiend mit dem Gewicht des väterlichen Einflusses auseinandersetzt. Der zu Beginn von Schwarz in allen Spielarten wiederholte Satz lautet dazu passend: „Ich möchte ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist.“ Dass es sich bei diesem Vater, diesem Anderen um Peter Handke und seinen „Kaspar“ handelt, fügt den zahlreichen Ebenen noch weitere Schichten hinzu. Denn zum einen gehört dieser Schriftsteller zu jenen, die sich einen solch eigenen Ausdruck erarbeitet haben, dass er sich leicht nachahmen lässt. Zum anderen besteht dieses spezifische Stück mitunter aus Versatzstücken anderer Texte unterschiedlichster Herkunft, ist also selbst ein Produkt des Nicht-Eigenen. Dieses Nicht-Eigene wird vom Film weder umarmt noch verteufelt. Es wird einfach als Gegebenes einer jeden künstlerischen Produktion aufgefasst.
Das ändert nichts daran, dass „Mein Satz“ ein sehr persönlicher Film ist, man spürt unter den Bildern wabernde Konflikte, die Tochter versucht hier des Vaters Herr zu werden, und das mit der Mutter in der Hauptrolle. Ein gewagtes Unterfangen, das einen belohnt mit der schlichten Schönheit eines Menschen, der seine eigene Sprache findet.