Drama | Frankreich/Schweiz 2022 | 95 Minuten

Regie: Philippe Garrel

Eine drei Generationen umfassende Familie betreibt eine fahrende Puppenbühne. Mit der Anstellung eines freigeistigen jungen Mannes, der Alterskrankheit des Vaters und der ein wenig aus der Zeit gefallenen künstlerischen Praxis droht sich die Truppe aufzulösen. Tragikomisches Porträt einer Familie im Wandel der Zeit, bei der sich die jungen Männer rücksichtslos selbst verwirklichen wollen, während die Frauen damit allein gelassen werden, die Tradition zu bewahren. Ein beiläufig inszenierter, in seinen komplexen Feinheiten brillierender Film über Kunst, Modernität und Liebe, der gekonnt zwischen der Tragik und Lächerlichkeit seiner Figuren wechselt. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LE GRAND CHARIOT
Produktionsland
Frankreich/Schweiz
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Rectangle Prod./Close Up Films/Arte France Cinéma/Tournon Films
Regie
Philippe Garrel
Buch
Jean-Claude Carrière · Arlette Langmann · Philippe Garrel · Caroline Deruas Peano
Kamera
Renato Berta
Musik
Jean-Louis Aubert
Schnitt
Yann Dedet
Darsteller
Louis Garrel (Louis) · Damien Mongin (Pieter) · Esther Garrel (Martha) · Lena Garrel (Lena) · Francine Bergé (Großmutter)
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama

Familiendrama um einen fahrenden Puppenspieler-Clan, der mit den Zeitläuften kämpft und um seine Existenz ringt.

Diskussion

Die fahrende Puppenbühne „Der große Wagen“ ist ein drei Generationen umfassendes Familienunternehmen mit klar verteilten Rollen: Die erwachsenen Kinder führen die Puppen, der verwitwete Vater (Aurélien Recoing) kümmert sich ums Management und die Großmutter (Francine Bergé) schneidert die Kostüme. Auch am gemeinsamen Esstisch sind die fünf ein gut eingespieltes Team. Keine Hierarchie prägt das Miteinander, sondern eine tiefe Verbundenheit; weil man sich gut kennt, aber auch, weil man dasselbe prekäre Künstlerleben teilt.

Wie der Alltag zwischen Anekdoten und Neckereien durch die unterschiedlichen Perspektiven bereichert wird, zeigt sich daran, wie sich linke Kämpfe über die Jahrzehnte verändert haben. Während die Oma einst noch von ihrer Mutter enterbt wurde, weil sie aus der Kirche ausgetreten ist, kämpft Enkelin Martha (Esther Garrel) heute barbusig bei den Femen gegen sexuelle Gewalt. Die Großmutter bewundert ihren Mut, sorgt sich aber auch, dass Martha sich verkühlen könnte.

In einer Umbruchsphase

Einen Familienfilm hat Regisseur Philippe Garrel nicht nur wegen des Sujets gedreht, sondern auch, weil er gleich drei seiner Kinder vor der Kamera versammelt sowie das Drehbuch gemeinsam mit seiner Ehefrau Caroline Deruas und Jean-Claude Carrière verfasst hat. Die biografischen Bezüge und Verwandtschaftsverhältnisse reichen noch weiter: Garrels Vater Maurice arbeitete ebenso wie der Vater des Darsteller Aurélien Recoing an einer Puppenbühne.

„The Plough“ (deutsch: der Pflug) erzählt davon, wie die Lebens- und Arbeitseinheit der Familie in einer Umbruchsphase zu zerfallen droht. Zunächst soll der außenstehende Pieter (Damien Mongin) die Zukunft der Truppe sichern. Ursprünglich wurde er nur als Aushilfe angestellt, weil der Vater nicht mehr zwei Puppen gleichzeitig führen konnte. Der Lockenkopf hat früher Häuser besetzt und beharrt im Leben wie in der Liebe auf seiner Freiheit. Als er festangestellt werden soll, zögert Pieter zunächst, nimmt das Angebot aber schließlich an.

Lange beobachtet die Kamera von Renato Berta zunächst das Geschehen hinter der Bühne, fängt das vertraute Zusammenspiel der Geschwister ein, aber auch die körperliche Anstrengung und das darstellerische Geschick, dass es braucht, um den Kindern im Zuschauerraum eine leichte Komödie zu präsentieren. Auch im Privaten verschleiert die gut geölte Alltagsroutine, dass die Einheit der Familie zerbrechlich ist. Für Pieter und Sohn Louis (Louis Garrel) ist das Puppenspielen nur eine pragmatische Zwischenstation für die ersehnte Karriere als Schauspieler und Maler.

Wenn Puppen zusammensacken

Sobald sich die Illusion auf der Bühne nicht mehr aufrechterhalten lässt, gerät auch die familiäre Stabilität ins Wanken. Bei einer Aufführung wechselt die Kamera, die sonst konsequent hinter der Bühne verharrt, plötzlich in die Zuschauer-Perspektive. Ohne erkennbaren Anlass sacken die beiden Puppen, die der Vater ausnahmsweise nochmal führt, in sich zusammen. Kurz darauf steht ein Krankenwagen vor der Tür.

Nach einem Zeitsprung ist der Vater tot und die Großmutter im fortgeschrittenen Stadium dement. Dass sich „der große Wagen“ in zunehmendem Verfall befindet, ist Moden, Krankheiten und dem Schicksal geschuldet, aber auch der zersetzenden Wirkung männlicher Selbstverwirklichung. So wie ein Gewitter als äußere Kraft die handbemalte Bühne zerstört, erweisen sich Pieter und Louis als charmante, aber eitle und egoistische Casanovas ohne Verantwortungsbewusstsein.

Wie viele von Garrels jüngeren Filmen handelt auch „The Plough“ von jüngeren Männern, die sich wie große Kinder benehmen, gierig sind, sich selbst überschätzen, um dann wehleidig vor sich hinzusiechen. Kaum hat Pieter eine Frau geschwängert, zieht er schon bei der nächsten ein. Seine Malerkarriere scheitert daran, dass er zunächst keines seiner Bilder verkaufen will und sie dann alle im Wahn zerstört.

Von der Truppe bleiben lediglich die beiden Schwestern pflichtbewusst zurück. Nachdem sich die Zuschauerreihen zunehmend lichten, regt Martha an, man könne es ja mal mit neuen Stücken versuchen. Doch Léna hält eisern an der Tradition fest: Das Klassische sei immer auch zeitgemäß.

Das Klassische ist zeitgemäß

Dieser Satz lässt sich auch auf die subtile Modernität von Garrels Kino übertragen. Meist finden sich in seinen Filmen dieselben Themen und Motive in seinen Filmen: spontane Verliebtheit, auf die der Schmerz eines gebrochenen Herzens folgt, virtuose Geschlechterkämpfe und die Widrigkeiten des Künstlerdaseins. So einfach und klassisch „The Plough“ auf den ersten Blick wirkt, so eigenwillig und komplex ist der Film in seinen Details. Viele Momente wirken wie aus dem Ärmel geschüttelt, erweisen sich aber, wie die unauffällig gestaffelten Bilder von Renato Barta, bei genauerer Betrachtung als präzise komponiert.

Die Qualität von Garrels Familienporträt zeigt sich vor allem in den Feinheiten. Ein wohl auch durch das geringe Budget des Films geprägter Blick fürs Wesentliche trifft auf ein genaues Gespür für den Einsatz von Ellipsen oder den gekonnten Wechsel zwischen der Tragik und Lächerlichkeit der Figuren. Von der Musik Jean-Louis Auberts sind immer nur einige Takte zu hören, die das Drama betonen, ohne es zu überfrachten. Ob in der Familie, der Beziehung oder der Kunst: letztlich wird alles zum Kampf gegen die Zeit. Die Pointe, auf die der Film mit seinem offenen Ende hinausläuft, besteht darin, dass die Liebe das Leben zwar mühsam und kompliziert macht; doch wenn alles in Trümmern liegt, spendet sie auch wieder Hoffnung.

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