Russland im Zweiten Weltkrieg: Oberfeldwebel Iwan Denissowitsch Schuchow erhält den Auftrag, zusammen mit seinem Kameraden Nikitin ein Artilleriegeschütz zur Front zu fahren. Doch zuvor müsse er einen Umweg nach Moskau machen, zum Roten Platz, wo eine Parade stattfindet. Ob das wohl Stalin war, da oben auf der Empore? Dann geht es weiter, mitten in einem Wald geraten die Soldaten in eine Schlacht, bei der sie mit ihrem Geschütz mehrere Panzer zerstören. Trotzdem nehmen die Deutschen sie gefangen, und die haben sich etwas ganz Perfides ausgedacht. In Fünferreihen müssen die Rotarmisten über eine verminte, schneebedeckte Straße laufen. Wer es bis zum anderen Ende schaffe, sei frei. Dabei wissen die Deutschen genau, dass die Russen ihre eigenen Soldaten, einmal der deutschen Gefangenschaft entronnen, als Spione verdächtigen.
Genau so kommt es: Wie durch ein Wunder überleben Iwan Denissowitsch und Nikitin die Flucht über die verminte Straße. Prompt werden sie von ihren Landsleuten zum einen, der abgeschossenen Panzer wegen, als Helden gefeiert, zum anderen ohne Gerichtsverhandlung zu zehn Jahren Zwangsarbeit in einem Straflager in Sibirien verurteilt. Iwan Denissowitsch bleibt nur die Erinnerung an seine Frau Natalya und seine beiden Töchter Katya und Lisa. Zwei Mal im Jahr dürfen sie ihm schreiben. Doch dann bleiben die Briefe aus…
Eine Solschenizyn-Verfilmung um die Gräuel der Stalinistischen Lager
„Gulag – 10 Jahre in der Hölle“ ist eine Verfilmung von Alexander Solschenizyns Roman „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, die 1962 nur mit der Erlaubnis Chruschtschows erscheinen durfte. 1970 erhielt Solschenizyn den Nobelpreis für Literatur, „Der Archipel GULAG“, ein fast schon dokumentarischer Bericht über die sowjetischen Straflager, machte ihn auch in Deutschland berühmt, führte aber 1974 dazu, dass der Schriftsteller aus der Sowjetunion ausgebürgert und ausgewiesen wurde. Bereits 1970 adaptierte Caspar Wrede den Roman unter demselben Titel, mit Tom Courtenay in der Hauptrolle („Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“). Nun besorgte der russische Altmeister Gleb Panfilow („Das Thema“) eine Neuverfilmung. Die Kriegsszenen sind für das russische Kino, in dem oftmals die Tapferkeit und der Widerstandsgeist der Rotarmisten im Zweiten Weltkrieg betont wird, erstaunlich unspektakulär und schlicht. Dies ist keine große Panzerschlacht, sondern ein kurzes, einsames Scharmützel, die Toten zeigt der Film nicht.
Mit einem Mal befindet sich die Hauptfigur im Lager, das bemerkenswert klein und übersichtlich ist, wie schon zu Beginn des Films eine nächtlich erleuchtete Aufsicht beweist. Hier leben nur politische Gefangene, keine kriminellen. „Das Leben im Lager ist wie eingefroren“, heißt es einmal im Off-Kommentar, um die Langeweile, Isoliertheit und Ereignislosigkeit zu beschreiben. Der eigentliche Feind ist die Kälte. Zu sadistischen Folterszenen kommt es hier nie, aber zu Schikanen. Wenn die Häftlinge sich im Freien ausziehen müssen, um sich nach verbotenen Gegenständen durchsuchen zu lassen, ist das Strafe genug: Die Kälte wird man so schnell nicht mehr los. Auch bei Maurerarbeiten in einem alten Fabrikgebäude, zu dem die Männer in einer langen Kolonne von links nach rechts durch die weiße, lebensfeindliche Schneelandschaft laufen, ist bei minus 18 Grad stets der Atem sichtbar, der Mörtel muss schnell verbraucht werden, damit er nicht einfriert.
Momente des Fantastischen in einer bedrückenden Wirklichkeit
Panfilow ging es, genau wie Solschenizyn, darum, wie man unter den stalinistischen Gräueln seine Würde und Menschlichkeit bewahren kann. Darum erklärt der Off-Kommentar das Prinzip der Brigade: Einer für alle, alle für einen. Jeder Gefangene steht für die anderen ein, sie treiben sich gegenseitig an. Die Solidarität unter den Gefangenen ist darum stets sichtbar: Sie helfen sich bei der Arbeit, tauschen Tabak und Gebäck aus, übernehmen die zehntägige Isolierhaft für einen Fieberkranken. Iwan Denissowitsch hilft dabei die unsichtbare Verbindung zu seiner Familie: Den Weg aus der verminten Straße findet er nur, weil ihm seine Tochter – so wird er später behaupten – an der Hand geführt habe. Einmal erscheint ihm ein Mütterchen, das ihm Mut zuspricht. Momente des Fantastischen, die die bedrückende Wirklichkeit ein wenig erträglicher machen.
Der Film lief bereits 2021 auf der Piazza Grande in Locarno. Ob er heute, nach dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, mit seiner Kritik an den Auswüchsen des Stalinismus noch so entstehen könnte, darf bezweifelt werden.