Maschhad ist mit über 3,5 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Irans, die als Zentrum des schiitischen Islams gilt. Über 20 Millionen Pilger und Touristen reisen jährlich dahin, um in der größten Moschee der Welt zu beten und sich vor dem Schrein des großen Imam Reza zu verneigen. Hier spielt „Holy Spider“, der dritte lange Film des in Schweden lebenden Exil-Iraners Ali Abbasi und der erste, in dem er sich mit dem Land seiner Geburt und dessen Gesellschaft auseinandersetzt.
Frühherbst, im Jahr 2001. Eine junge Frau – sie hat auf dem Rücken Schwielen und blaue Flecken – macht sich in den ersten Bildern des Filmes zuhause bereit für den Ausgang. Ihre kleine Tochter schläft bereits. Die Frau zieht los, um in den Straßen unweit der Moschee ihre Liebesdienste anzubieten. Ihren ersten Freier begleitet sie ins Hotelzimmer, im Fernsehen im Bildhintergrund steigt Rauch aus den Twin Towers auf. Den zweiten bedient sie im Auto. Dazwischen kauft sie, um ihren Schmerz zu betäuben, bei einer alten Händlerin Opium. Der dritte Kunde schließlich fährt zu nachmitternächtlicher Stunde auf dem Motorroller vor und nimmt sie mit zu sich nach Hause. Sie solle ein Kopftuch anziehen und ihr Gesicht verhüllen, bittet er sie beim Gang durch den dunklen Hinterhof. Ihr Zögern scheint ihn zu reizen.
Der Mörder schlägt nachts zu
Und da ist da eine andere, ebenfalls junge Frau, Arezoo Rahimi, von Beruf Journalistin. Sie reist in einem Bus von Teheran in ihre Heimatstadt Maschhad, um am Ort des Geschehens über einen Serienmörder zu recherchieren, der seit einigen Monaten von sich reden macht. Der Mann schlägt stets nachts zu, seine Opfer sind ausschließlich Prostituierte. Zugrunde liegt Abbasis Film der Fall eines der berüchtigtsten und brutalsten Serienmörder des Irans. Er hat, bevor man ihn 2001 zu fassen bekam und vor Gericht stellte, 16 Frauen umgebracht. Abbasi verfolgte den Fall in den Monaten, in denen er seinen Wegzug aus seiner Heimat vorbereitete.
Bereits während der Fahrt zum Hotel erfährt Rahimi durchs Taxiradio von des Serienkillers neustem, dem gezählt neunten Mord. Nachdem sie ihre Unterkunft bezogen hat, schaut sie bei der Redaktion der lokalen Zeitung vorbei. Sie unterhält sich mit dem diensthabenden Gerichtsreporter, den sie von früher kennt, und erfährt von ihm, dass „The Holy Spider“, wie man den Täter in den Medien und inzwischen auch im Volksmund nennt, nach jedem Mord bei der Redaktion anruft und angibt, wo er die Leiche deponiert hat. Beim letzten Anruf, erzählt Sharifi, sei der Mann zornig geworden. Er habe gesagt, er sei kein Mörder, sondern ein Soldat. Er befinde sich in einem Krieg gegen das Laster und werde seinen Kampf nicht beenden, bevor er seine Aufgabe erfüllt habe. Nach dem Besuch auf der Redaktion macht sich Rahimi auf den Weg zur Polizei.
Medienschaffende recherchieren auf eigene Faust
„Holy Spider“ beginnt wie ein gewöhnlicher Thriller: Mit einem ungelösten und etwas mysteriösen Fall, der durch eine neue Untat weiter befeuert wird. Mit Vertretern der Behörde, die von Amtes wegen mit der Ermittlung betraut sind, und mit Medienschaffenden, die auf eigene Faust recherchieren. Man sieht das Opfer, den Tatort, die Morde, schemenhaft – von hinten, im Schatten, von ferne – gar den Mörder. Man weiß, dass er Motorroller fährt, sieht in einer Einstellung seine Hand, an deren einem Finger ein Ring mit auffällig rotem Stein steckt. Doch einen Ring mit rotem Stein tragen im Iran oder zumindest in diesem Film diverse Männer, und Motorräder sind in den Straßen von Moschhad keine Seltenheit.
Ali Abbasi erzählt raffiniert, in oft nachtdunklen Bildern, in denen die Kamera den Darstellern abwechselnd ganz nahe ist, um sie dann aus dem Versteckten heraus wieder zu verfolgen. Nachdem der Mörder seine erste Leiche entsorgt hat, zieht die Kamera einmal hoch und gibt den Blick auf das sich spinnenartig über die Stadt breitende Straßennetz frei. Abbasi wirft den Zuschauern Häppchen zu. Er lädt diejenigen, die mit dem Fall nicht schon vertraut sind und den Namen des Täters aus der Berichterstattung nicht noch in den Ohren haben, vorerst zum spannenden Rätseln ein.
Das Porträt einer maroden Gesellschaft
Doch „Holy Spider“ ist – wer Abbasis frühere, beide mysteriös aufgeladene und düstere Filme „Border“ und „Shelley“ kennt, dürfte es ahnen – kein gewöhnlicher Thriller. Es ist von den ersten Bildern an auch das Porträt, beziehungsweise eine mit künstlerischer Freiheit gestaltete Abrechnung mit einer tief gespaltenen, maroden Gesellschaft, in der Klerus und weltliche Obrigkeit unter einer Decke stecken und die Meinung des Volkes von übermächtiger religiöser Doktrin bestimmt wird. Einer Gesellschaft auch, in der die Frauen von den Männern seit Jahrhunderten hemmungslos unterdrückt werden. Es herrsche in der iranischen Gesellschaft, erklärt Abbasi in den Unterlagen zu seinem Film, ein tief verwurzelter Hass auf Frauen, der nicht religiös oder politisch motiviert sei, sondern einen traditionellen kulturellen Ursprung habe. Der 1981 Geborene hat den Fall in den Monaten vor seinem Umzug nach Schweden noch im Iran miterlebt.
Und so steht in „Holy Spider“ dem in religiösem Wahn ruchlos handelnden gestandenen Mann eine junge Journalistin gegenüber, die sich während ihrer Berufsausübung immer wieder gezwungen sieht, sich und ihre Rechte als Frau zu verteidigen. Das beginnt bereits bei der Ankunft im Hotel, wo man sie als unverheiratete Frau trotz vorheriger Reservierung so lange abzuweisen versucht, bis sie sich als Journalistin ausweist. Es setzt sich fort in der Zusammenarbeit mit dem ermittelnden Polizisten, der Rahimi nicht nur belügt, sondern sie eines Abends unter einem fadenscheinigen Vorwand im Hotel besucht und dabei höchst unziemlich körperlich bedrängt. Und dann ist da noch die Episode mit ihrem ehemaligen Chef, der sich an sie heranmachte und durch ihre Abweisung derart gekränkt fühlte, dass er ihr nicht nur kündigte, sondern auch rufschädigende Gerüchte über sie in Umlauf brachte.
Die Journalistin spielt selbst ein potenzielles Opfer
Rahimi führt ihre Nachforschungen aller Unwägbarkeit zum Trotz unbeirrt fort. Sie kann nicht glauben, dass die Polizei auch nach dem zehnten Opfer noch im Dunkeln tappt. Sie wirft einem hochstehenden Kleriker im Gespräch vor, dass man die Morde insgeheim wohl gutheiße, und wird rüde zurechtgewiesen. Dass sie sich schließlich selbst unter Lebensgefahr als Sexarbeiterin ausgibt und somit maßgebend dazu beiträgt, dass der Mörder schließlich gefasst wird, steht auf einem anderen Blatt. Die ursprünglich aus dem Iran stammende, heute aber in Frankreich lebende Schauspielerin Zar Amir-Ebrahimi spielt Rahimi sehr wandelbar und überaus ausdrucksstark, sie wurde in Cannes dafür sehr verdient als beste Schauspielerin ausgezeichnet.
Doch „Holy Spider“ ist mit der Entlarvung und Festnahme des Killers nicht vorbei, sondern kommt nochmals richtig in Fahrt. Denn während die Gerichtsverhandlungen laufen, werden immer mehr Stimmen laut, die – unter dem Motto, dass wer im Namen Gottes Sexarbeiterinnen beseitige, eigentlich Gutes tue –sich auf Seite des Mörders schlagen und ihn als Helden feiern.
Abbasi hat seinen Film als mehrstimmigen Kanon orchestriert. Er zeigt das Milieu der sich prostituierenden Frauen ebenso wie die mittelständische Gesellschaftsschicht des Täters. Die Opfer sind in seinem Film nicht gesichtslose Wesen, sondern Frauen mit persönlichen Biografien und Schicksalen. Der Killer ist im Alltag ein angesehener Bürger und treusorgender Gatte und Vater, der seine Familie über Monate genauso narrt wie den Rest der Welt – und übrigens auch die Zuschauer: Es gibt wenige Filme, die es wagen, einen gnadenlos Mordenden zwischendurch derart sympathisch zu zeigen, dass man auch als Zuschauer seine Wahrnehmung von ihm immer wieder korrigiert.
Frömmelei, Heuchelei und Korruption
Anders als andere iranische Filmemachende, die wie etwa Asghar Farhadi und Jafar Panahi die iranische Gesellschaft zwar kritisieren, dies aber zurückhaltend tun, nimmt Abbasi kein Blatt vor dem Mund. Er entwirft in „Holy Spider“ das düstere Bild einer frauenfeindlichen und moralisch zerrütteten Gesellschaft, in der Frömmelei, Heuchelei und Korruption an der Tagesordnung sind und man sich um die Würde von Menschen und Menschenrechte nicht schert. Gedreht übrigens wurde „Holy Spider“ nicht in Maschhad, sondern in Jordanien.