Gegenüber Fremden scheu sein ist ein Gefühl, das Anaïs fremd ist. Tatsächlich verhält sie sich nie so offen und redselig wie in Gegenwart von Menschen, die sie nie zuvor gesehen hat und die eigentlich ganz anderes von ihr wollen als Informationen über die Probleme und ungeklärten Fragen im Leben der jungen Frau. Anaïs’ Wohnungsbesitzerin etwa ist eigentlich nur vorbeigekommen, um einen Rauchmelder anzubringen und nach den zwei noch ausstehenden Monatsmieten zu fragen, doch damit dringt sie bei Anaïs nicht durch. Wie ein Wirbelwind ist diese verspätet hereingebraust, fegt von einer Ecke der Wohnung zur anderen und konfrontiert die distanzierte Frau damit, dass sie die Miete nicht zahlen konnte, weil ihr Freund und bisheriger Mitbewohner auf ihren Wunsch ausgezogen ist – obwohl sie weiterhin mit ihm zusammenbleiben will. Die Lösung des Mietproblems muss aber vertagt werden, weil Anaïs für ihre nächste Verabredung schon wieder zu spät dran ist, sich in aller Eile umzieht und die Wohnungsbesitzerin einfach stehen lässt.
Eine weibliche Variante des Stadtneurotiker-Typus
Kommunikation ist bei Anaïs eine einseitige Angelegenheit. Und auf Ratschläge reagiert sie geradezu allergisch; wohl vor allem deshalb plaudert sie vor Unbekannten fröhlich aus dem Nähkästchen, während sie bei Menschen, die ihr nahestehen, plötzlich zurückhaltend und ausweichend wird. Die Nachricht von einer unerwarteten Schwangerschaft und der Entscheidung, das Kind nicht bekommen zu wollen, enthüllt sie ihrem Freund derart beiläufig, dass dieser eine weitere Beziehung nur noch für unmöglich erklären kann; die Krebserkrankung ihrer Mutter überfordert Anaïs wiederum derart, dass sie das Weite sucht, statt der Kranken beizustehen. Im Innersten will sie, dass alles möglichst so bleibt, wie es einmal war, auch wenn sie selbst in ihrem Dasein rastlos von einer Station zur nächsten hastet und nirgendwo Wurzeln schlagen will.
Mit der Hauptfigur ihres ersten Spielfilms „Der Sommer mit Anaïs“ stellt die französische Regisseurin Charline Bourgeois-Tacquet eine Protagonistin ins Zentrum, wie sie vergleichbar auch in amerikanischer Variante bei Noah Baumbach in „Frances Ha“ oder in norwegischer bei Joachim Trier in „Der schlimmste Mensch der Welt“ auftraten: Selbstständig, modern, gebildet und kunstsinnig, im Wesen aber sprunghaft, angetrieben von der Furcht, das Wichtige im Leben zu verpassen, und zurückscheuend vor jeder verbindlichen Beziehung, sei sie beruflich oder privat. Im Grunde folgen sie dem klassischen Stadtneurotiker-Typus im Kino, doch anders als ihre eher versponnenen und phlegmatischen männlichen Pendants sind diese weiblichen Varianten vom permanenten Bewegungsdrang erfüllt. Dementsprechend ist Anaïs immer wieder rennend zu sehen, um sich trotzdem ständig zu verspäten und im Leben allgemein nicht voranzukommen: Damit, dass sie den Abgabetermin für ihre Abschlussarbeit im Literaturstudium einhalten wird, braucht niemand zu rechnen; eine befristete Stelle bei ihrem Doktorvater ist in ihrer Lage die einzige berufliche Option, doch auch dafür bringt sie kaum Interesse auf; ihren Geldmangel nimmt sie zwar als Problem wahr, doch nicht als eines, das ihr den Schlaf rauben würde. Notfalls überlässt sie eben koreanischen Touristen ihre Wohnung und kommt woanders unter – bei ihrem ungeordneten Privatleben sind die nächsten Schwierigkeiten freilich vorprogrammiert.
Quirlig-Impulsiv: Anaïs Demoustier
Charline Bourgeois-Tacquet bewegt sich mit einer locker gehaltenen, bewusst nicht zugespitzten Szenenabfolge, die einen Schwerpunkt auf wechselnde Liebesbeziehungen setzt, auf einem speziell im französischen Kino vertrauten Terrain, wie es aktuell auch Filmemacher wie Emmanuel Mouret und Jérôme Bonnell belegen. Für beide Regisseure stand Bourgeois-Tacquets Hauptdarstellerin Anaïs Demoustier ebenfalls schon vor der Kamera und kann mit ihrer quirligen, impulsiven Spielweise nun auch in diesem Film wieder die Sprünge im Verhalten ihrer Figur glaubhaft und liebenswert machen: Die Protagonistin Anaïs lässt sich hier bereitwillig auf den erheblich älteren Verleger Daniel Moreau-Babin ein, was aber beiden keine Erfüllung bringt. Zwar kommt es zu heimlichen Treffen und Anaïs zieht kurzzeitig bei Daniel ein, nachdem sie ihre Wohnung an die Koreaner abgetreten hat; Leidenschaft entwickelt sich aber weder bei ihr noch bei Daniel – denn der hat keine Absicht, sein gemütliches Leben an der Seite der Schriftstellerin Emilie aufzugeben.
Die ist für die literarisch bewanderte Anaïs auch jenseits der Konkurrenzsituation interessant, sodass sie zum Ausgleich für die scheiternde Affäre Emilies Romane erkundet und der Wunsch nach einer Bekanntschaft entsteht; nach einer zufälligen Begegnung auf der Straße reist sie Emilie zu einem Kolloquium in der Bretagne hinterher und passt sie systematisch ab. Emilie wirkt zwar überrumpelt und ausweichend, gibt Anaïs aber auch Signale, dass ihr die Aufmerksamkeit zu gefallen scheint. Die wiederum lässt sich immer weitertreiben, bereit, alles zu akzeptieren, wo ihr Instinkt sie hinführt.
Eine spannungsvolle Frauenfreundschaft
„Der Sommer mit Anaïs“ setzt auf temporeiche Dialogwechsel und Situationen, die nicht nur auf Wortwitz aufbauen, sondern immer wieder auch eine beachtliche Vielschichtigkeit erreichen. Insbesondere gilt das für die Beziehung zwischen Anaïs und Emilie, die über die offensichtliche gleichgeschlechtliche Anziehung hinaus auch die Ängste und Projektionen beider Frauen berührt. Das subtile Zusammenspiel zwischen Anaïs Demoustier und einer überzeugend bedächtig agierenden Valeria Bruni Tedeschi gibt vor allem dem zweiten Teil des Films eine vibrierende Spannung, mit der Charline Bourgeois-Tacquet die Atmosphäre bis zum Ende durchhalten kann.
In Timing und Stimmung ist „Der Sommer mit Anaïs“ ein sehr vielversprechendes Spielfilm-Debüt, auch wenn es bei der Auflösung der verwickelten Stränge flüchtiger verfährt als bei deren Einführung und einige Einfälle und Charaktere etwas unterwickelt zurückbleiben. Nebenfiguren wie Anaïs’ Mutter oder ihr Professor hätten zum Beispiel durchaus Ausbaupotenzial und ein Motiv wie Anaïs’ Klaustrophobie wird für zwei Sequenzen eingeführt, dann aber abrupt wieder fallen gelassen. Sehr effektiv ist es freilich als Sinnbild für die Furcht, in Schubladen gesperrt zu werden – eine Furcht, der Protagonistin und Film gleichermaßen beherzt entgegentreten.