Ein Mann auf dem Weg in die schottischen Highlands. Erst überquert er mit einer Autofähre einen Fjord, dann sagt ihm sein Navigationsgerät, dass er noch 42 Meilen geradeaus fahren müsse. Der Mann ist sichtlich nervös und kann es kaum abwarten, sein Ziel zu erreichen. Als Zuschauer weiß man auch, warum: Edmond Murray, Berater einer großen Ölfirma, hat von seiner geschiedenen Frau Joan einen Notruf erhalten. Ihr siebenjähriger Sohn Ethan sei während eines Aufenthalts in einem Ferienlager in den Highlands verschwunden. Eine Entführung?
Irritierende Wendungen und Gewaltausbrüche
Der örtliche Inspektor Roy, ein kühl berechnender Ermittler, verdächtigt zunächst Murray selbst und interessiert sich auffallend für seine Arbeit. Ob seine Aufenthalte im Iran, im Irak und in Syrien mit dem Fall zu tun haben könnten? Eine falsche Fährte, die den Zuschauer bewusst in die Irre führen soll. Für Murray hingegen steckt jemand anderer dahinter: Frank, der neue Lebensgefährte von Joan. Der ist viel zu unbekümmert über das Verschwinden des kleinen Jungen; im Grundriss des Hauses, das er mit Joan bauen will, ist kein Kinderzimmer für Ethan vorgesehen. Die überaus gewalttätige Konfrontation zwischen den beiden Männern ist die nächste Irritation der Inszenierung. Doch dann informiert der Inspektor darüber, dass ihm höchste Regierungskreise in London die weiteren Ermittlungen verboten hätten. Murray ist damit auf sich gestellt. Bis er auf einem Smartphone eine Spur entdeckt.
Der französische Drehbuchautor und Regisseur Christian Carion hat diese Geschichte einer Kindesentführung schon einmal unter dem Titel „Mon garçon“ (2017) verfilmt, mit Guillaume Canet und Mélanie Laurent als besorgten Eltern. In Deutschland ist dieser Film allerdings nicht gelaufen. Nun hat Carion mit einem höheren Budget den Handlungsort von Frankreich nach Schottland verlegt, das Trauma des Originals und seine Brisanz aber beibehalten. „My Son“ verfügt noch über eine weitere Besonderheit: Der Hauptdarsteller James McAvoy musste im Gegensatz zu allen anderen Darstellern ohne Drehbuch auskommen, also improvisieren. Eine grobe Orientierung bot ihm nur ein kurzes Exposé. So sollte der Schock eines Vaters, der langsam erfährt, was mit seinem Sohn passiert ist, realistischer und spannender wirken.
Die Hauptfigur bleibt lange undurchschaubar
Wenn man als Zuschauer von diesem inszenatorischen Dreh allerdings nichts weiß, kann man ihn auch nicht goutieren. Stattdessen wundert man sich über die Ambivalenz, mit der James McAvoy die Figur zeichnet und sie so lange Zeit undurchschaubar macht. Das Fehlen eines Skripts ist auch schuld daran, dass sich die Dialoge auf steife Befehle oder simple Zustandsbeschreibungen beschränken. Mit seiner Darstellung unterläuft McAvoy auf fatale Weise immer wieder die Glaubwürdigkeit des Vaters. Murrays Misstrauen gegenüber Frank wirkt seltsam übertrieben und aufgesetzt, zumal es für Franks mutmaßliche Gleichgültigkeit dem Jungen gegenüber keine Anhaltspunkte gibt, die den Gewaltausbruch rechtfertigten. Noch irritierender sind aber die Folterszenen, mit denen der Vater in „Ein Mann sieht rot“-Manier von irgendwelchen Schurken Informationen erpresst.
Was bleibt, sind – neben der bravourösen Darstellung von Claire Foy als besorgter Mutter, die wieder lernen muss, ihrem Ex-Mann zu vertrauen – die aufregenden Landschaftsaufnahmen. Selten sind die schottischen Highlands mit ihren weich fließenden, baumlosen Bergen so düster und menschenfeindlich erschienen. Doch von der schlichten Krimi-Handlung können auch sie nicht ablenken.