Lebensgeschichte des Bergarbeiters Alphons S. - Ein Bio-Interview in 8 Filmen
Dokumentarfilm | BR Deutschland 1977/78 | 240 Minuten
Regie: Gabriele Voss
Filmdaten
- Produktionsland
- BR Deutschland
- Produktionsjahr
- 1977/78
- Produktionsfirma
- Institut für Filmgestaltung Ulm/Hübner Filmprod.
- Regie
- Gabriele Voss · Christoph Hübner
- Buch
- Gabriele Voss · Christoph Hübner
- Kamera
- Christoph Hübner
- Schnitt
- Gabriele Voss
- Länge
- 240 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
Heimkino
Als die chronologisch in acht Teile gegliederte „Lebensgeschichte des Bergarbeiters Alphons S.“ im Jahr 1978 zur Aufführung kam, gab es viel Lob, Anerkennung und eine begeisterte Resonanz. Es hieß, dass „dieses menschlich und zeitgeschichtlich so großartige Dokument“ (Walter Fabian) nicht in den Archiven verschwinden dürfe. Heute, 40 Jahre später, hat der viereinhalbstündige Film nichts von seiner Eindruckskraft verloren. Im Gegenteil. Die Dokumentaristen Christoph Hübner und Gabriele Voss haben für die Aufzeichnung dieses Lebenszeugnisses eine Form gefunden, wie sie schlichter und überzeugender nicht sein kann: Ein Mann sitzt am Küchentisch und erzählt aus seinem Leben, wie bei einem Interview. Man hört gebannt zu, denn der hagere Mann, Alphons Stiller (1906-1979), kann nicht nur anschaulich erzählen; es gelingt ihm mühelos, auch zeitgeschichtliche Verbindungen zu knüpfen. So entspringen Personen und Szenerien, historische Ereignisse und Zeitbilder seiner quicklebendigen Erinnerung. Hübner/Voss halten die Erzählungen ihres Protagonisten frei von Kommentaren, historischen Einordnungen oder sonstigen „didaktischen Aufbereitungen“. Nur wenige Schrifttafeln und kleine, unkommentierte Fotoserien sind zwischen die Kapitel eingefügt. Die Kamera (gedreht wurde auf Halbzoll-Video) bleibt auf einer Position, verengt oder weitet den Bildausschnitt nur minimal. Der damals 71-jährige Alphons Stiller erhält Zeit und Raum, seine eigenen Erzählbögen zu spannen, seinen eigenen Rhythmus zu finden. Daraus gewinnt der Film seine Überzeugungskraft. Geschichtenerzählen ist eine elementare Form, in der wir unser Leben erinnern, darstellen und deuten. Den Respekt gegenüber dieser Form und gegenüber dem Erzähler bezeugen die schlichten filmischen Mittel; gleichzeitig entsteht daraus ein spannender Geschichtsunterricht. Aus Geschichtsbüchern weiß man, dass zu Beginn des Ersten Weltkriegs die Kriegsbegeisterung sehr groß war; dennoch geht es unter die Haut, wenn Stiller aus der Perspektive des Schulkinds davon erzählt, wie die Stimmung kippte, als immer mehr Familien „diese schwarzumrandeten Briefe“ zugestellt bekamen. Von Anfang an prägen sich insbesondere solche Geschichten ein, in denen es um gesellschaftlich virulente Stimmungen geht, um Ressentiments gegen „Außenseiter“ und „Fremde“, gegen „Pollacken“, „Zigeuner“ und „Juden“, aber auch gegen „Rothaarige“. Stiller war selbst ein Rothaariger und bekam das zu spüren. Als Sohn eines armen Bergarbeiters, der ein „Trinker und Luftikus“ war, befand er sich von vornherein in der Position des Außenseiters. Er durchlebte Zeiten schroffer Umbrüche im persönlichen und gesellschaftlichen Leben, arbeitete nicht nur im Bergbau, war auch Landarbeiter und gehörte lange Jahre als „Tippelbruder“ zum Strandgut der Gesellschaft. Als Hilfsarbeiter in einer saarländischen Mühle entdeckte er die Welt der Bücher, wurde zum Bücherverschlinger, zum Allesleser, und politisierte sich. Aber er betont, dass es nicht die Schriften von Marx-Engels-Lenin gewesen seien, die ihn zum Marxisten gemacht hätten, sondern das Leben selbst: „Der Marxismus ist durch mein Leben zu mir gekommen!“ Er entwickelte gewisse Sympathien für linksradikale Aktionisten und gründete auch dann noch Fußballvereine als Zellen des politischen Widerstands, als die Nazi-Herrschaft heraufzog. Bis ins Jahr 1936 reichen seine Erzählungen zurück; in den Schlusskapiteln beschreibt er die Mechanismen der Gleichschaltung unter der Nazi-Diktatur mit einer Präzision und existentiellen Direktheit, die einen enorm starken Eindruck hinterlassen. Die „Lebens-Geschichte des Bergarbeiters Alphons S.“ blickt auf eine erstaunliche Erfolgsgeschichte zurück: Der Film lief auf zahlreichen Festivals und war mehrmals im WDR-Fernsehen zu sehen, er wurde mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet und vom Goethe-Institut weltweit vertrieben. Die Aufnahme in die Liste des nationalen deutschen Filmerbes ermöglichte die Restaurierung von Bild und Ton sowie die Herstellung der ab Frühjahr 2018 verfügbaren Doppel-DVD. Sehr aufschlussreich für die eigenwillige Arbeitsweise von Christoph Hübner und Gabriele Voss ist auch das einstündige Interview mit den beiden Filmemachern unter dem Titel „Alphons S. wiedergesehen“ im Bonusmaterial.
„Lebens-Geschichte des Bergarbeiters Alphons S. – Ein Bio-Interview in 8 Teilen von Alphons Stiller, Gabriele Voss, Christoph Hübner“. Doppel-DVD mit Begleitheft, 2018. Herausgegeben vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe / LWL-Medienzentrum für Westfalen (Reihe: Westfalen in historischen Filmen). Film in acht Teilen, insgesamt 4 Stunden 16 Minuten, schwarzweiß, 1978. Bonus: Interview mit Christoph Hübner und Gabriele Voss, 56 Minuten, 2018