Dokumentarfilm | Deutschland 2020 | 90 Minuten

Regie: Sharon Ryba-Kahn

Dokumentarische Spurensuche einer jungen jüdischen Filmemacherin aus Berlin, die in Deutschland, Israel und Polen die Geschichte ihrer jüdischen Familie erkundet. Die melancholisch gestimmte Familienchronik thematisiert das Unbehagen, das die Regisseurin in Deutschland empfindet, und versucht diesem auf den Grund zu gehen. Zugleich stellt sie eindringliche Fragen nach der Vergangenheitsbewältigung jenseits der offiziellen Erinnerungskultur und setzt sich für einen ehrlichen Dialog zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen ein. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Tondowski Films/Filmuniversität Konrad Babelsberg/ZDF - Das kleine Fernsehspiel
Regie
Sharon Ryba-Kahn
Buch
Sharon Ryba-Kahn
Kamera
Omri Aloni
Musik
Dascha Dauenhauer
Schnitt
Evelyn Rack
Länge
90 Minuten
Kinostart
04.11.2021
Fsk
ab 6
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Eine junge jüdische Filmemacherin reist durch Deutschland, Israel und Polen, um die Geschichte ihrer jüdischen Familie zu erhellen. In ihrem Dokumentarfilm will sie ergründen, warum sie sich in Deutschland unwohl fühlt.

Diskussion

Die Berliner Filmemacherin Sharon Ryba-Kahn begibt sich in ihrem zweiten langen Dokumentarfilm nach „Recognition“ (2015) auf eine Reise in die Geschichte ihrer jüdischen Familie. Die 1983 in München geborene Dokumentaristin lebte als Jugendliche vier Jahre in Israel und hat in Paris und New York Theaterwissenschaften studiert. Seit 2007 wohnt sie in Berlin, wo sie an der Filmuniversität Babelsberg eingeschrieben war. „Displaced“ ist ihr Abschlussfilm.

Es ist ein sehr persönliches Werk, das stark vom Lebensgefühl einer Autorin geprägt ist, die sich in Deutschland nicht ganz so wohlfühlt, wie sie das gerne hätte. Sharon Ryba-Kahn ist zwar in Deutschland geboren, besitzt aber keinen deutschen Pass. In „Displaced“ macht sie deutlich, dass sie sich in erster Linie als Jüdin versteht. Mit den Augen der dritten Generation nach dem Holocaust blickt sie auf sich, ihre Familie und ihr nicht-jüdisches deutsches Umfeld.

Nicht ganz einfache Familienverhältnisse

Den Anstoß zu einer vertieften Beschäftigung mit der familiären Vergangenheit gibt ihr Vater Moritz, der sich nach siebenjährigem Schweigen unverhofft bei ihr meldet. Sie beschließt, den 70-jährigen Mann in Tel Aviv zu besuchen, der zuvor offenbar nie mit ihr über die Shoah gesprochen hat. Während des Besuchs, aber auch in späteren Telefonaten wird deutlich, wie gespannt das Verhältnis zwischen beiden ist. Vater und Tochter nähern sich im Verlauf der filmischen Erzählung zwar an, doch es bleibt eine merkliche Leerstelle: Man erfährt nicht, warum zwischen den beiden so lange Funkstille herrschte.

Nach ihrem Trip nach Tel Aviv startet Ryba-Kahn eine Spurensuche, um die Geschichte ihrer Vorfahren väterlicherseits zu erkunden. Den Ausgangspunkt bildet ein gemeinsamer Besuch mit dem Vater am Grab des Großvaters in Israel. Man spürt, wie enttäuscht sie ist, als sie den Vater fragt, warum er sie damals nicht über den Todesfall informiert hat, und man merkt, wie befangen er ist, wenn er ausweichend antwortet.

Ryba-Kahns Spurensuche führt nach Polen. Von dort stammt die Familie Ryba. Der Großvater Chaim Ryba überlebte das Vernichtungslager Auschwitz, seine Frau ein NS-Arbeitslager. Beide ließen sich nach dem Krieg in München nieder, wo sie lange Jahre lebten.

Viele Fragen bleiben offen

Ihr Sohn Moritz fühlte sich in Deutschland jedoch nicht zuhause; zu schwer lastete offenbar die Vergangenheit auf den Beziehungen zu nicht-jüdischen Deutschen. „Ich war nicht stolz, Deutscher zu sein“, sagt er seiner Tochter, als er ihr eine „Verzichtsurkunde“ zeigt. Sie bestätigt, dass er 2017 auf die deutsche Staatsbürgerschaft verzichtete, nachdem er einen israelischen Pass erhalten hatte. Auf diesen Pass sei er wirklich stolz, sagt Moritz Ryba.

In Polen besucht die Regisseurin zwei Ortschaften, in denen ihre Vorfahren gelebt haben. Sie fährt zu einem verwahrlosten Waldfriedhof, sieht eine zerstörte Synagoge. Die Ahnentafel, die sie vom väterlichen Familienzweig erstellen ließ, verhilft zu neuen Erkenntnisse über die Verwandten, doch es bleiben viele Fragezeichen, wenn es um deren Schicksale im Zweiten Weltkrieg geht.

Der emotionale Höhepunkt von „Displaced“ ist ein Video, das entstand, als Ryba-Kahn sechs Jahre zuvor ihren Großvater Chaim besuchte, den sie viele Jahre nicht gesehen hatte. Darin berichtet er in bewegenden Worten von seinen Erlebnissen im Holocaust, den er als einziger seiner Familie überlebte. Es war die letzte Begegnung zwischen Großvater und Enkelin, wie Ryba-Kahn im Off erzählt.

Diesen Kommentar spricht sie auf Englisch, während sie sich mit ihrem Vater meist auf Deutsch unterhält; mit anderen Gesprächspartnern in Deutschland spricht sie Deutsch. Das lässt sich als Zeichen der inneren Distanz zur deutschen Sprache deuten, die ja auch die Sprache der Täter ist; es könnte aber auch ein Zugeständnis ans internationale Publikum sein.

Die Wurzeln des Unbehagens

Zwischendurch setzt sich die Autorin immer wieder mit ihrem Unbehagen in Deutschland auseinander und versucht, dessen Ursachen zu ergründen, etwa in Gesprächen mit Schulfreundinnen oder einem Nachbarn. Dabei wird allmählich deutlich, dass zwischen ihren Erwartungen ans deutsche Umfeld in Bezug auf eine fortwährende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Bereitschaft ihrer Freunde und Bekannten eine Kluft besteht.

Sehr problematisch ist, dass „Displaced“ nicht erklärt, wer die Personen sind, mit denen die Autorin spricht, und wie sie heißen. Aus dem Kontext lässt sich manchmal erschließen, dass sie beispielsweise einen Historiker, einen Psychologen oder eine Holocaust-Überlebende befragt. Im Abspann werden die Namen zwar aufgeführt, doch im Nachhinein lassen sie sich kaum noch zuordnen. Ryba-Kahn erschwert damit ein besseres Verständnis ihres kraftvollen Films, dessen bohrende Nachfragen lange nachhallen.

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