Drama | Taiwan 2019 | 127 Minuten

Regie: Tsai Ming-liang

In Bangkok leben ein Taiwanese mittleren Alters, den unergründliche Schmerzen plagen, und ein junger, aus einem Dorf stammender Laote, die beide auf ihre Art ein einsames Leben führen. Der Film begleitet die beiden durch ihren freudlosen Alltag in der City bis zu einer erotischen Begegnung in einem Hotelzimmer. Ein intimer Moment, der im starken Kontrast zu ihrer sonstigen Existenz steht. In dem Hybrid aus Dokumentar- und Spielfilm über den Alltag zweier einsamer Großstädter führt Tsai Ming-liang sein Prinzip der äußersten Reduktion fort. Durch seine rigide Form mit langen Plansequenzen, unverständlichen Dialogen und leichten Verschiebungen entfaltet sich dabei eine enorme Wirkung. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
RIZI
Produktionsland
Taiwan
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Homegreen Films
Regie
Tsai Ming-liang
Buch
Tsai Ming-liang
Kamera
Chang Jhong-Yuan
Schnitt
Chang Jhong-Yuan
Darsteller
Lee Kang-sheng (Kang) · Anong Houngheuangsy (Non)
Länge
127 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama

Hybrid aus Dokumentar- und Spielfilm über den Alltag zweier einsamer Großstädter, der durch seine rigide Form mit langen Plansequenzen und unverständlichen Dialogen eine enorme Wirkung erzielt.

Diskussion

Draußen tobt ein Unwetter, doch durch die Fensterfront kann man es betrachten, als wäre es lediglich ein Film. Drinnen sitzt Lee Kang-Sheng und starrt in die Leere. Seit 30 Jahren ist er die Muse des taiwanesischen Regisseurs Tsai Ming-liang. Sein Antoine Doinel; halb realer Mensch, halb Figur. Seit drei Jahrzehnten lebt Lee auch vor der Kamera, spiegelt seine Biografie in der Fiktion, vom Tod seiner Eltern bis hin zu seinen körperlichen Leiden. Jetzt scheint er angekommen zu sein. Er haust nicht mehr in heruntergekommenen Wohnungen, die wieder und wieder überflutet werden, weil es hereinregnet oder ein uraltes Rohr bricht. Das Wasser, schon immer ein Leitmotiv in Tsais Filmen, ist domestiziert. Es klatscht wirkungslos gegen die Scheibe und umhüllt sanft Lees nackten Körper in der Badewanne. Oder es steht als Mineralwasser neben ihm auf dem Tisch, im Glas jeder elementaren Gefahr beraubt. Doch wenn man genau hinsieht, erkennt man ein sanftes Zittern auf der Wasseroberfläche. Etwas bebt. Das ist „Days“, der neueste Film von Tsai Ming-liang: Alles erscheint ruhig, aber nur, weil man die inneren und äußeren Erschütterungen mit bloßem Auge kaum mehr erkennen kann.

Die Einsamkeit der Großstädter

Diese erste Einstellung mit Lee Kang-Sheng wird etwa fünf Minuten lang gehalten. Auch sieben Jahre nach seinem letzten Spielfilm „Stray Dogs“, nach einer langen Expedition in die Welt von VR-Experiences und Museums-Installationen, sind Tsai viele seiner Mittel erhalten geblieben. Sein Hauptdarsteller und die Historie, die er mit sich bringt. Die Einsamkeit der Großstädter, Tsais großes Thema; diesmal auch in Bangkok, nicht nur in Taipei. Die langen, statischen Einstellungen, die oft eher Orte und Architektur erfassen als Menschen. Die Gebäude sind karg und trostlos, aber irgendwie auch ehrlich. Sie versprechen nichts. Es sind Bilder, in die man sich einlebt. Man betrachtet sie, bis man sich an sie gewöhnt hat. Und wenn einer der wenigen Schnitte kommt, vermisst man sie. Zumindest ein wenig.

Von dem schrägen Slapstick-Humor, den grellen Musical-Einlagen und den magisch-realistischen Elemente aus Tsais Frühwerks ist kaum etwas geblieben. Auch die fachsimpelnden Querverweise auf die Geschichte des Kinos wurden auf ein einziges Element reduziert. Sein Hybrid aus Spiel- und Dokumentarfilm drängt diesmal stärker zum Dokumentarischen. Hinzugekommen sind zitternde Handkameraaufnahmen, die Lee durch lärmende Menschenmengen verfolgen. Eine Überraschung für Tsais sonst so rigides Kino. Hier steht die Architektur plötzlich im Hintergrund, verschwindet in der Unschärfe des Bilds. Da sind nur noch Lee und das Chaos. „Days“ ist näher an den Menschen als viele andere Filme des Regisseurs. Damit stellt das Drama gleichzeitig eine Konzentration auf das Wesentliche und eine formale Expansion dar.

Zwei Geraden, die sich schneiden

Neu ist auch sein zweiter Hauptdarsteller, der junge laotische Migrant Anong Houngheuangsy, kurz Non. Tsai hat ihn in einem Nudelimbiss entdeckt, eine Zufallsbegegnung, die nachwirkt. Der Film begleitet Non und Lee durch ihren Alltag. Von einer Geschichte oder vom Erzählen kann man nicht wirklich sprechen. Es ist fast mathematisch simpel: Zwei Geraden schneiden einander. Beide verrichten Triviales, sie kochen, laufen und warten. Lees Nackenleiden, erstmals in „Der Fluss“ (1997) thematisiert, ist zurück. Er lässt sich behandeln, eine kuriose Zeremonie mit wärmenden Platten, Rauch und rieselnder Asche. An ihm wackeln schwer definierbare Objekte, bis irgendetwas schief geht und er eilig von all dem Tand befreit wird. Non kocht Gerichte aus seiner Heimat. Er wäscht Salat, trägt Zutaten zusammen und verrührt alles. Zwei verschiedene Lebenswirklichkeiten werden parallelisiert: ein mittelalter, mittelständischer Taiwanese auf der einen Seite; ein armer, junger Laote auf der anderen.

Von der Szene an, in der Non als zweite Figur etabliert wird, verzehrt sich der Film nach ihrer Begegnung. Sie scheint unausweichlich, jeder Akt wird zur Vorbereitung oder Nachwirkung des Aufeinandertreffens. Alle Filme über Einsamkeit handeln eigentlich von Sehnsucht und Liebe.

In der Mitte von „Days“ steht ihre Zusammenkunft in einem Hotelzimmer. Non massiert Lee, sie haben Sex. Es ist eine lange und zärtliche Sequenz, ein intimes Ritual. Ganz anders als Lees erste Behandlung, körperlicher und unmittelbarer. Nach beiden Versuchen, ihn zu heilen, stehen Tränen in seinen Augen. Schmerz und Erleichterung, nur neu gewichtet.

Wie authentisch ist diese Begegnung wirklich?

Lee bezahlt Non. Es gibt in „Days“ keine menschliche Beziehung, die nicht auch eine Transaktion darstellt. Hier kommt auch ins Spiel, dass Lee kein Tagelöhner und Herumtreiber mehr ist, dass er keine Uhren mehr verkauft wie in etwa „What Time Is It There?“. Ihre Leben sind nicht gleich, die Macht zwischen ihnen ist asymetrisch verteilt. Es lässt sich nicht beantworten, wie viel von der Leidenschaft und der Zärtlichkeit Non nur spielt. Wie authentisch ist diese Begegnung wirklich, welche die zuvor so oft im Bild platzierten Gitter und Glasfassaden aufsprengt und zwei Menschen und ihre sehnsüchtigen Körper zusammenbringt?

Eine Texttafel zu Beginn des Films erklärt, dass er mit Absicht ohne Untertitel bleibt. Es ist ein wenig wie bei Depeche Mode: „Words are very unnecessary / They can only do harm“. Sprache war bei Tsai schon immer ein unzureichendes, fehlerbehaftetes Mittel der Kommunikation. Er ist auf der Suche nach dem universell Verständlichen; nach dem, was der Menschen intuitiv erfasst, jenseits aller erlernter Codes. Sanfte Berührungen, einfache Melodien, Tränen.

Nach dem Sex will Non gehen, doch Lee nimmt ihn beiseite. Setzt ihn auf die Bettkante. Schenkt ihm ein Glas Wasser ein. Man denkt an die erste Einstellung – er kann etwas aus seinem nunmehr behaglichen Leben teilen. Er hat ein Geschenk für ihn: eine Spieluhr, die „Terry’s Theme“ aus Charlie Chaplins „Rampenlicht“ spielt. Aus diesem späten Melodram des Komikers, auf das nur noch wenig populäre Kuriositäten folgten. Ein Abgesang? Schon „Visage“ und „Stray Dogs“ trugen in sich die Frage, ob Tsai Ming-liang mit seiner Form nicht in einer Sackgasse gelandet ist. „Visage“ endete mit einer Flucht ins Museum - das ist der Pfad, den der Regisseur in den 2010er-Jahren gewählt hat. „Stray Dogs“ enthält eine atemberaubende Einstellung von 14 Minuten Länge. Auch hier war die Frage, wann der Film endgültig zur Wandmalerei erstarrt.

Mit einfachen Mitteln verzaubern

Tsais Antwort auf diese ästhetischen Fragen ist so simpel wie mitreißend. Non dreht die Spieluhr, und die Töne tragen alle Zweifel fort. Die unsichtbaren Beben werden spürbar, zwei Körper schwingen in Resonanz. Ja, diese beiden sind in diesem Augenblick vereint, allen Widerständen zum Trotz. Ja, Tsai kann mit seinen einfachen Mitteln immer noch verzaubern, die Zuschauer denken und fühlen lassen. Leichte Verschiebungen können die Welt bedeuten, sanfte Schwingungen lassen Mauern einstürzen, Regentropfen formen Sturmfluten. Alles bekommt etwas Träumerisch-Unwirkliches. Am Ende steht kein „Fade To Black“, stattdessen wird das Bild vom hellen Weiß eines neuen Tages überstrahlt. Etwas Neues scheint möglich.

„Days“ ist wie die Spieluhr. Ein Film, dessen innere Melodie man im Herzen tragen kann. Eine zarte Flamme gegen eine kalte Welt, sanfte Töne gegen den Lärm der Großstadt.

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