Obwohl der Titel natürlich viel mehr meint, beginnt es mit einem Vorspiel im engeren Sinn: Eine Musikhochschule, junge Nachwuchs-Musiker kämpfen darum, zugelassen zu werden zu exquisitem Unterricht. Ihre potentiellen Lehrer sind routiniert, abgebrüht an der Grenze zum Zynismus. Zugleich ohne Frage auf hohem Niveau.
Nina Hoss spielt Anna, selbst herausragende Musikerin und eine der Lehrerinnen auf dem noblen, elitären, autoritären Berliner Konservatorium, das, so ertappt man sich zu denken, möglicherweise der Otto-Falckenberg-Schule nachempfunden ist, jener gleichfalls so noblen wie autoritären Schauspiel-Kaderschmiede in München, die auch Regisseurin und Drehbuchautorin Ina Weisse, selbst ausgebildete Schauspielerin, einst besuchte.
Anna ist als Lehrerin sehr gut, aber auch sehr streng, und entfaltet über ihre Schüler ein subtiles Regiment aus Erziehung und Disziplinierung – und dass es dabei nicht zuletzt auch um Selbstdisziplinierung, der Lehrerin wie ihrer Schüler, geht, das wird schnell klar. Denn Annas eigenes Leben ist voller offener Baustellen: Ihre Ehe mit einem Franzosen, der Instrumentenbauer ist, zuhause einen recht passiven Hausmann und umso besseren Beobachter gibt, ist glücklich, trotzdem hat sie eine Affäre; ihre eigene Musikkarriere liegt brach, denn auf der Bühne mutiert Anna regelmäßig zum Nervenwrack, und zeigt genau jene Schwäche, die sie ihren Schülern mit aller Macht austreiben will. Vor allem aber ist da ihr Sohn Jonas. Der soll auch Geige spielen, geht aber lieber zum „Männersport“ Eishockey, und zu ihm ist Anna strenger und härter als zu jedem Schüler. Als er eines Tages sagt: „Ich will ’nen Hund haben“, antwortet sie: „Du hast ’nen Hund. Dein Hund ist deine Geige.“
Bei Nina Hoss lodert das Feuer
Nina Hoss spielt diese Frau souverän und ungleich expressiver, als man es aus den meisten ihrer früheren Rollen – vor allem in den sechs Filmen, die sie gemeinsam mit dem Berliner Christian Petzold drehte – kennt: Auch da, wo bei Hoss die Gefühle kontrolliert, zurückgenommen und verinnerlicht erscheinen, lodert das Feuer. Und immer wieder bricht es aus ihr heraus: Ina Weisse nimmt in ihrem zweiten Spielfilm die neo-bürgerlichen und möchtegern-bürgerlichen Verhältnisse unserer Gegenwart – nicht nur jene schwarzgrün grundierten von Berlin-Mitte – mit großer Beobachtungsgabe und subtilem Humor ins Visier. Von feinem Witz sind etwa mehrere familiäre Essensszenen, wo unter der Obsession für die richtige Diät und die zu vermeidenden Esssünden – Fleisch, Milchprodukte – die Neurosen und fehlgeleiteten Energien einer ganzen Gesellschaft sichtbar werden.
Einmal mehr, wie schon in Jan-Ole Gersters „Lara“ und in „Pelikanblut“ von Katrin Gebbe erzählt ein aktueller deutscher Film von strengen Müttern, und wie in „Lara“ gehört die Hauptfigur, die Mutter, einer mittleren Generation an, die zwischen den Alten und den Jungen steht, zwischen kaltherziger (oder kaltherzig wirkender) unsensibler Rohrstockpädagogik und einer fragilen (oder fragil wirkenden) Empfindsamkeit, deren Empathie sich übersensibel auf alles Mögliche richtet, und damit zugleich im Konkreten leicht eine indifferente Note bekommt.
„Du musst nicht spielen, wenn du nicht willst“, sagt Mutter Anna zu Sohn Jonas bei einem Abendessen – schon Kinder der Siebziger haben diese Gestalt des Autoritären unter der Maske antiautoritär gerahmter „Laissez-Faire“-Freiwilligkeit („Aber du willst es doch auch, oder?“) kennengelernt, die zehn Jahre später in den Neoliberalismus mündete. Gerade Kultur ist mit dem Zwang verschwistert. Heute ist das Ergebnis das, was „Das Vorspiel“ in vielen Szenen porträtiert und kritisiert: Eine gnadenlose Leistungsgesellschaft, in der jede(r) auf je spezifische Weise nur an sich denkt.
Wie in „Lara“ werden die klassische Musik und der Musikunterricht hier zugleich Mittel autoritärster, oft brutaler Unterdrückung, wie umgekehrt zum Reservoir emotionaler Freiheitsmomente.
Klassische Musik, sensible Bildsprache
Im allerbesten Sinn ist „Das Vorspiel“ ein altmodischer Film: Klassische Musik, die mit sensibler Bildsprache von Judith Kaufmann eingefangenen unterdrückten Gefühle und das Böse unter der Maske bürgerlicher Disziplin lassen ein ums andere Mal gleichermaßen an auf die Musik gemünzte kunstreligiöse Emphasen im Gefolge der Romantik denken wie an „Das weiße Band“ und andere Haneke-Filme: „Das Vorspiel“, in dem Thomas Thieme in einem schönen Nebenauftritt als Annas Vater zu sehen ist, ist ein kluger, engagierter Film über Schuld und Sühne, über autoritäre Traditionen, die sich durch drei Generationen ziehen und vererben, dabei nur ihre Gestalt ändern. Bei den heute Jungen, den jugendlichen Söhnen in Weisses Film haben sie das Antlitz jener „neuen Sensibilität“, die sich vor allem in der Figur des Jonas zeigt: Der sorgt sich um Tiere, rettet Fische im Westberliner Lietzensee vor den Anglern, und will plötzlich kein Fleisch mehr essen – aber zu anderen Kindern ist das zartbesaitete Wesen dann plötzlich brutal.
Die geheime Komplizenschaft zwischen Mutter und Sohn, das gegenseitige Erkennen und Verstehen ihrer Nähe gerade im Abgründigen und Amoralischen, und dem daraus folgenden schlechten Gewissen, ist das untergründige Leitmotiv dieses facettenreichen, herausragenden Films. „Das Vorspiel“ bietet keine Lösungen und das ist gut so. Der Film beharrt darauf, dass das Leben und die Kunst eben kompliziert sind, dass zur Kunst Disziplin und Risiko gehören, auch die Angst zu versagen, und, ja: auch bestimmte Formen der Gewalt. Das muss nicht gut sein, aber es scheint unvermeidlich.
Dieser Film ist auch ein Vorspiel düsterer Zeiten. Wenn es hier eine Botschaft gibt, dann lautet sie: Weg von der Sicherheit.