Tinder und Berlin. Was das eine mit dem anderen zu tun hat? Wie sich Dating-App und urbaner Lebensstil wechselseitig beeinflussen? Solchen Fragen spürt die Dokumentarfilmerin Leonie Loretta Scholl in ihrem Regiedebüt nach. Ihre Suche nach Einsichten startet mit einer radikal distanzierten Aufsicht auf die Stadt. Dem vertikalen Kamerablick aus der Vogel- oder besser Drohnenperspektive haftet etwas Mechanisches an, wenn er Straßen und Brücken in tiefenscharfen Aufnahmen wie eine Modelllandschaft abscannt. Von der Bild gewordenen urbanen Anonymität wechselt der Kamerablickwinkel ins Innere eines der Autos, die eben noch wie Miniaturfahrzeuge über die Leinwand glitten. Sinnbildlich durch die Augen der Fahrerin blickt man nun nach draußen auf die Straßen der Stadt.
Die 29-jährige Karoline sitzt am Steuer, später dann auf einer Treppe in ihrer Wohnung, während sie von ihren Erfahrungen mit Tinder erzählt. Es ist das erste von insgesamt neun Interviews, die, abgesehen von einigen wiederkehrenden inszenierten Szenen eines Dates, strikt getrennt nacheinander folgen. Regisseurin Scholl interviewt Frauen und Männer aus ihrem eigenen Freundes- und Bekanntenkreis, darunter auch ehemalige Tinder-Dates. Diese subjektive Auswahl hat weitreichende Folgen. Zunächst kann man sich direkt von der Idee verabschieden, die Befragten könnten einen Querschnitt der Berliner Bevölkerung repräsentieren. Es sind fast durchweg junge Kreative, die nach Berlin gezogen sind, weil sie sich dort für ihr Leben, ihren Beruf größere Freiheiten oder bessere Chancen erhoffen: eine Requisitenbauerin, ein Art Director, ein Journalist und so weiter.
Der Wisch-und-weg-Algorithmus spiegelt Berlins oberflächliche Seite
Die Bandbreite der Einsichten fällt entsprechend gering aus. Im Grunde gelangen alle zu ähnlichen Einschätzungen. So aufregend und abwechslungsreich sich das Leben in Berlin darstellt, so oberflächlich ist es häufig. Tinders Wisch-und-weg-Algorithmus spiegelt das beispielhaft wider. Die virtuellen Selbstinszenierungen halten der Wirklichkeit nicht stand. Um Enttäuschungen zu vermeiden, verlaufen die realen Begegnungen oftmals ohne eine Nähe, die über mechanischen Sex hinausreicht und gerade dadurch im Nachklang umso enttäuschender. Personen werden wie Produkte konsumiert, getestet, aussortiert. Vielleicht ist ja beim nächsten Match noch was Besseres dabei. Die eigene Selbstbestätigung prallt schmerzhaft an der des Gegenübers ab.
Die meisten Befragten aber haben durchaus auch positive Erfahrungen mit Tinder gemacht. Zwei sind sogar ein Paar geworden, erwarten ihr erstes gemeinsames Kind. Fast alle betonen, dass die App ihnen eine Zeit lang weitergeholfen und gutgetan habe. Dennoch sind es die gesellschafts-, die kultur- und zeitkritischen Aspekte, die als gemeinsame Schnittmenge im Gedächtnis bleiben. Insgesamt ein wenig überraschender Befund. So ähnlich hatte man sich das schon gedacht. Unterm Strich also ist der Erkenntniswert von Scholls Doku eher gering.
Deutlich interessanter präsentiert sich der Film dafür über dem Strich, also bevor die persönlichen Erfahrungen zu generellen Aussagen zusammenaddiert wurden. In den einzelnen Gesprächen erweist sich dann auch die freundschaftliche Verbundenheit zwischen Regisseurin und Protagonisten nicht mehr als Manko, sondern als bereichernd. Während die entfesselte Kamera wie selbstverständlich durch eine Wohnung mäandert oder den Blick aus einem Fenster über den Hinterhof schweifen lässt, ist es, als wäre man bei guten alten Freundinnen und Freunden zu Besuch, die mit einem über Gott und die Welt plauderten, oder in diesem Fall eben über Tinder und Berlin.
Austauschbare Meinungsträger werden individuelle Persönlichkeiten
Aus austauschbaren Meinungsträgern werden individuelle Persönlichkeiten, die sich nicht eben mal kurz wegswipen lassen. Man muss das dann schon aushalten, wenn Blandina und Christen erzählen, wie sie sich über Tinder kennenlernten, als Christens Vater im Sterben lag, oder wenn Jana berichtet, wie sie von einem Tinder-Date vergewaltigt wurde. Hier sprechen Menschen vor der Kamera über das, was sie in ihrem Innern bewegt, ohne dass das auch nur ansatzweise sensationsheischend wirken würde.
Es sind diese persönlichen Geschichten, die philosophisch intimen Momenten und die unablässig mitschwingende Sehnsucht nach analoger Liebe und menschlicher Geborgenheit, die „Berlin 4 Lovers“ zu einem sehenswerten, tiefgründigen Dokumentarfilm machen, die berühren und nachhallen, und nicht irgendwelche Statements zu Tinder und Berlin.