Chernobyl
Drama | USA/Großbritannien 2019 | 310 (fünf Episoden) Minuten
Regie: Johan Renck
Filmdaten
- Originaltitel
- CHERNOBYL
- Produktionsland
- USA/Großbritannien
- Produktionsjahr
- 2019
- Produktionsfirma
- HBO/Sister Pic./Sky Television/The Mighty Mint/Word Games
- Regie
- Johan Renck
- Buch
- Craig Mazin
- Kamera
- Jakob Ihre
- Musik
- Hildur Guðnadóttir
- Schnitt
- Jinx Godfrey · Simon Smith
- Darsteller
- Jared Harris (Waleri Legassow) · Stellan Skarsgård (Boris Schtscherbina) · Emily Watson (Ulana Khomyuk) · Jessie Buckley (Ludmilla Ignatenko) · Paul Ritter (Anatoli Djatlow)
- Länge
- 310 (fünf Episoden) Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama | Serie
Heimkino
Am 26. April 1986 kam es im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl zu einer Explosion des Kernreaktors. Die fünfteilige Mini-Serie zeigt die wissenschaftliche und politische Aufarbeitung des Vorfalls in der damaligen UdSSR und verfolgt akribisch die Chronologie der Ereignisse ab der Nacht der Explosion, erweitert um fiktionalisierte menschliche Einzelschicksale.
Das Ende ist Geschichte. Man weiß, welche Folgen es hatte, als am 26. April 1986 um 1:23 Uhr nachts das Dach des Reaktorblocks 4 im Kernkraftwerks Tschernobyl nach einer kurzen, aber heftigen Explosion einstürzt und eine Wolke aus Staub und ionisierendem Gas freisetzt. Im nahegelegenen Ort Prypjat schläft man in dieser Nacht ein letztes Mal in Frieden. Mit der Katastrophe verabschiedet sich das Leben aus der Region.
Die Mini-Serie „Chernobyl“ beginnt mit einer Szene, die die fatalen Folgen anhand einer Vignette drastisch vor Augen führt: mit dem Tod der Hauptfigur. Waleri Alexejewitsch Legassow (Jared Harris), einer der Leiter des Kurtschatow-Instituts für Kernenergie und beauftragt mit der Aufarbeitung des bislang schlimmsten Reaktorunfalls in der Geschichte der Menschheit, erhängt sich genau zwei Jahre, nachdem Block 4 auf so fatale Weise außer Kontrolle geraten war.
Was ihn zu diesem Selbstmord trieb, erfährt man in der fünf Stunden Erzählzeit des Fünfteilers; die erschütternde Handlung folgt den Ereignissen, die 1986 den europäischen Kontinent traumatisierten und heute fast verdrängt scheinen. Unwillkürlich fragt man sich: Brauchte es wirklich erst des Unfalls in Fukushima, um daran erinnert zu werden, was für fatale Risiken mit der Nutzung von Atomenergie verbunden sind?
Die Folgen des GAU
In langen Rückblenden rollt die Serie die Folgen des atomaren Unfalls vom 26. April 1986 auf. Das Feuer nach der Explosion ist gar nicht einmal immens. Aber es reicht, um nicht nur Ljudmila (Jessie Buckley), die Frau des Feuerwehrmanns Wassili Ignatenko (Adam Nagaitis), aufschrecken zu lassen. Sie wird schon bald mit anderen wenige Kilometer von Tschernobyl entfernt die erleuchtete Szenerie betrachten und glauben, dass der Brand sicher schnell unter Kontrolle gebracht wird.
Während sich im Kontrollraum des Kernkraftwerks weiß gekleidete Wissenschaftler anschreien und Arbeiter durch die derangierten Gänge des Reaktors irren und nichts verstehen, erreicht Wassili mit seiner Einheit den Ort des Geschehens und beginnt mit ersten Aufräumarbeiten. Die Männer schaffen eigentümlich schwarze, kohleartige Fragmente vom Vorplatz beiseite, um wenigstens schon einmal irgendetwas zu tun. Niemand ahnt etwas von dem, das nicht einmal die Wissenschaftler in Minsk, Kiew und Moskau für möglich gehalten haben: dass wenige Stunden später diejenigen, die vor Ort an der Unglücksstelle sind, vor Unwohlsein zusammenbrechen und Qualen erleiden, die sich keiner vorstellen kann.
Der „Größte Anzunehmende Unfall“ ist in seiner schlimmsten Form eingetreten – was für eine absurde Steigerung. In Moskau sitzt derweil ein eiligst einberufener Krisenstab unter Vorsitz von Präsident Michail Gorbatschow (David Dencik) und beschwichtigt sich selbst. Alles ist, ja muss einfach nur unter Kontrolle sein. Nur kritische Geister wie Legassow schlagen Alarm. Politfunktionär Boris Schtscherbina (Stellan Skarsgård) mag solche Theoretiker nicht und reagiert mehr als ungehalten, als ausgerechnet er beauftragt wird, mit Legassow nach Prypjat zu fahren, um die Lage zu sondieren.
Kaum Zeit, um Atem zu schöpfen
Derweil ist auch Ulana Khomyuk (Emily Watson) irritiert ob der seltsam strahlenden Staubpartikel an den Fenstern ihres Labors in Minsk. Die renommierte Kernphysikerin mag weder glauben, was über den Vorfall in Tschernobyl durchsickert, noch will sie ihre eigenen Schnellanalysen trauen. Liegt 400 Kilometer entfernt ein schmelzender Reaktorkern an der freien Luft?
Die Zuschauer haben kaum Zeit, Atem zu schöpfen, da haben Regisseur Johan Renck und seinen Autor Craig Mazin (gleichzeitig Schöpfer der Mini-Serie) die drei Hotspots der Handlung skizziert: die Verantwortlichen vor Ort, das Politiker-/Funktionärsteam aus Moskau und die Wissenschaftlerin aus Minsk. Sie werden am Ort des Schreckens zusammenfinden, sich zusammenraufen und erkennen, mit welch grotesker Fahrlässigkeit hier mit dem Schicksal eines ganzen Kontinents gespielt wurde.
„Chernobyl“ ist die akribische Chronologie der Ereignisse – inklusive der Schicksale der Arbeiter, deren Leid verdrängt, geleugnet und (fast) vergessen wurde; erweitert auch um das schnelle und – schlimmer noch – langsame Sterben von Menschen und Tieren im Bannkreis des Super-GAUs.
Unaufgeregt-nüchtern und doch nervenzerrend
„Chernobyl“ schmerzt tief. Weil Figuren sterben, die man gerade erst kennen- und mögen gelernt hat. Dabei sucht die Serie nicht den melodramatischen Effekt; sie beweist, dass der kühle Realismus aus den Genrefilmen des New Hollywood auch heute noch effektiv sein kann. „Die Unbestechlichen“ (1976), „Andromeda – Tödlicher Staub aus dem All“ (1970), „Das China-Syndrom“ (1978), „Silkwood“ (1983) waren unaufgeregte, atemlos spannende Filme, die die Skrupellosigkeit und Fahrlässigkeit von Menschen im Bannkreis politischer, wirtschaftlicher oder weltanschaulicher Macht vor Augen führten; in dieser Tradition des dunkelgrauen, zur Empörung zwingenden Paranoia-Kinos steht diese Mini-Serie. Sie ist beseelt von Darstellern, die mit Understatement große Schauspielkunst zelebrieren, und arbeitet analytisch mit Daten, Zahlen und Fakten, macht verständlich, ohne zu vereinfachen.
Verortet ist die Serie in einer drückenden, fast schon klaustrophobisch-farbentsättigten Szenerie, die nicht nur einer gräulichen Sowjet-Provinz während des Kalten Krieges geschuldet ist, sondern das Beklemmende der Ereignisse vor allem auch visuell spiegelt. Auch der archaische, zwischen dem Sounddesign des Geigerzählers und einem sakralem Generalbass mäandernde Soundtrack trägt dazu bei: Er drückt wie Blei auf die Brust und streut die Gewissheit, dass gerade das, was man nicht sieht, eine todbringende Gefahr darstellt. Hildur Guðnadóttir untermauert mit diesem atonalen, gewaltigen Musikansatz den Anspruch auf die würdige Nachfolge ihres verstorbenen Kollegen und Klangzauberers Jóhann Jóhannsson.
Politisch ist „Chernobyl“ nicht deshalb, weil die Mini-Serie die Politikerkaste der Sowjetunion harsch und plakativ charakterisiert, sondern weil sie über den konkreten zeitlichen und regionalen Kontext hinaus die Überheblichkeit menschlicher Technik- und Fortschrittshörigkeit und die Kurzsichtigkeit angesichts möglicher Folgen anprangert – die Katastrophe von Tschernobyl, wie die Serie sie ins Gedächtnis ruft, lässt sich vor allem als Menetekel in Zeiten des Klimawandels lesen, in denen die „Kollateralschäden“ des menschlichen Einflusses auf die Umwelt einmal mehr katastrophische Ausmaße annehmen – im globalen Maßstab.