Der Reporter Jacques Mayano, von Vincent Lindon zuverlässig, wach und agil verkörpert, hat für eine französische Tageszeitung nahezu von allen Krisen- und Kriegsschauplätzen der Welt berichtet. Doch während seines letzten Einsatzes in Syrien wurde der Fotograf, der ihn während all der Jahre begleitet hatte, vor seinen Augen getötet. Seither ist Mayano derart traumatisiert, dass er selbst zu Hause die Fenster mit dicken Kartons abdunkelt. An einen weiteren Einsatz als Reporter ist vorerst nicht zu denken. Doch dann erreicht ihn ein unerwarteter Anruf aus dem Vatikan. Vor zwei Jahren wurde aus dem Südosten Frankreichs eine angebliche Marienerscheinung gemeldet. Nachdem die Kurie eine Weile aus der Ferne zuschaute, ob sich die Aufregung um eine Jugendliche (Galatéa Bellugi), der die Muttergottes erschienen sein soll, nicht von selbst wieder legt, will man der Sache nachgehen; Mayano soll als erfahrener Reporter den Fall im Auftrag der Kirche gemeinsam mit einer Expertengruppe untersuchen.
In Vorbereitung auf diese Aufgaben gewährt man ihm im vatikanischen Archiv Einblick in frühere Studien. Darin ist von Wundern, Erscheinungen und Heiligsprechungen die Rede, aber auch von Irreführungen, Hochstaplern und Exorzismen. Mayano wird eindringlich gewarnt, dass Fanatismus und Verblendung nie weit entfernt sind, wo es um Religion und Glauben geht.
Zwischen Erweckungstaumel und Devotionalienkitsch
In Ansätzen weckt „Die Erscheinung“ durchaus Assoziationen zu den Dan-Brown-Thrillern „Sakrileg“ und „Illuminati“. Doch ganz so einfach lässt sich der Film nicht unter Genre-Kategorien subsumieren. Denn die Inszenierung lotet nicht nur die persönliche Befindlichkeit des Protagonisten aus und begleitet dessen Genesung und berufliche Wiedereingliederung, sondern ändert wiederholt Setting und Tonfall. Zunächst führt der Film in ein winziges Dorf im Südosten Frankreichs, in dessen Umgebung die Marienerscheinung stattgefunden haben soll; gedreht wurde in der sanft hügeligen Umgebung von Gap in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur.
Die 18-jährige Anna, die mehrmals Maria gesehen haben will, hat eine bewegte Kindheit und Jugend in Pflegefamilien und Heimen hinter sich und lebt derzeit als Novizin in einem Kloster. Der ortsansässige Pfarrer hält schützend seine Hand über sie, auch wenn ihm deshalb das Messelesen in der Kirche verboten wurde. In Annas näherem Umfeld bewegt sich ein Erleuchteter, der für die von ihm angehimmelte Jugendliche große Pläne hegt und dafür sorgt, dass Gläubige in den USA über das Internet an einer der täglich in einer Mehrzweckhalle abgehaltenen Gottesdienste teilnehmen können.
Seitdem sich die Gottesmutter gezeigt hat, ist in Annas früher eher verschlafenem Heimatdorf viel los. Es wirkt durchaus realitätsverbrieft, was Xavier Giannoli in Anlehnung an tatsächliche Ereignisse als Fiktion entwirft. Unablässig treffen neue Busladungen verzückter Pilger ein; mit großem Brimborium, Glockenläuten und Annas Anwesenheit werden Gottesdienste gefeiert, in improvisierten Shops wird kommerziell einträglich Erinnerungskitsch vertrieben.
Eine heilsame Begegnung
Vor diesem Hintergrund gestalten sich die von Mayano unterstützten Befragungen und Untersuchungen von Psychiatern, Ärzten und Historikern dementsprechend schwierig. Doch bevor die Geschichte sich festfährt, verlagert Giannoli den Fokus ein weiteres Mal. Er richtet ihn vom großen Geschehen auf die persönliche Begegnung, auf die hinter dem Rücken von Annas vielen Bewachern und Beschützern langsam wachsende persönliche Beziehung zwischen Mayano und Anna, zwischen dem alles Elend der Welt in seiner Person vereinigenden Reporter, der alles hinterfragt und sich als letzter von (suspekten) Heilsverlockungen blenden ließe, und der in gewisser Weise naiven, man könnte auch sagen, „jungfräulich reinen“ jungen Frau, die Werte wie Glauben, Liebe und Güte verkörpert.
Damit weitet sich das Themenfeld über die immer weiter in den Hintergrund tretenden Untersuchungen und deren Ergebnisse zu dem, was im Kern das Thema ist: der Frage nach der Rolle und dem Stellenwert, welche in der vom Zusammenprall unterschiedlichster Gesellschaften, Kulturen und Religionen geprägten Welt Wahrheit, Glaube und Wirklichkeit – und damit auch einer seriösen Berichterstattung – zukommt.
Das Verhältnis von Wahrheit, Glaube und Wirklichkeit
Noch ein letztes Mal nimmt „Die Erscheinung“, der streckenweise spannend wie ein Krimi ist, zwischendurch aber auch in eine gewisse Bedächtigkeit trudelt, eine unverhoffte Wende, wenn sich der Schauplatz in die Nähe des Ortes verlagert, von dem aus der Film seinen Anfang nahm: In ein Flüchtlingslager an der Grenze von Syrien, wo sich Mayano – nun ohne Auftrag des Vatikans – mit der Frage konfrontiert sieht, ob einer Erzählung über eine Begegnung mit der Muttergottes Glaube zu schenken ist oder nicht.