Drama | Dänemark 1987 | 106 Minuten

Regie: Lars von Trier

Zwei Drehbuchautoren wollen innerhalb von fünf Tagen das Manuskript für einen Film erarbeiten, in dem die Bevölkerung Europas von einer geheimnisvollen Seuche dahingerafft wird. Während ihrer Recherchen bemerken sie jedoch nicht, dass ihre Filmidee längst von der Realität eingeholt wurde. Der mittlere Teil der "Europa-Trilogie" von Lars von Trier thematisiert (kulturelle) Befindlichkeiten, Verfall und Verlust. Das verspielte filmische Vexierbild, inszeniert als Film im Film, steckt voller Referenzen auf Filme der 1970er-Jahre und bietet zugleich zahlreiche Hinweise auf das filmische Universum seines Regisseurs. (O.m.d.U.; vgl. "The Element of Crime" und "Europa") - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
EPIDEMIC
Produktionsland
Dänemark
Produktionsjahr
1987
Produktionsfirma
Element
Regie
Lars von Trier
Buch
Lars von Trier · Niels Vørsel
Kamera
Henning Bendtsen · Lars von Trier · Niels Vørsel
Musik
Peter Bach · Richard Wagner
Schnitt
Lars von Trier · Thomas Krag
Darsteller
Lars von Trier (Regisseur) · Niels Vørsel (Drehbuchautor) · Udo Kier (Udo Kier) · Susanne Ottesen (Frau des Autors) · Svend Ali Hamann (Hypnotiseur)
Länge
106 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Fantasy
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Eigentlich hätte der Film „Die Hure und der Bulle“ heißen sollen, doch wenige Tage vor Abgabe des Manuskripts gibt der Drucker seinen Geist auf und erweist sich die Diskette als defekt. Da sich die Autoren Lars und Niels nicht mehr an den Anfang ihres Reißers erinnern können, den Mittelteil nur noch rudimentär im Kopf haben und auch das Ende nur schwammig memorieren, entschließen sie sich, von vorn anzufangen und – wenn schon, denn schon – etwas Dynamischeres zu Papier zu bringen: Epidemic. Ihnen bleiben fünf Tage Zeit, um die Geschichte von Dr. Mesmer zu erzählen, der den Versuch unternehmen wird, die Menschheit mit Aspirin vor einer tödlichen Seuche zu retten. Doch der eigentliche, hinterhältige Plan der Autoren ist, dass Mesmer durch seinen Idealismus die Krankheit erst recht verbreiten wird. Während Lars und Niels die (wissenschaftlichen) Hintergründe recherchieren, sich über die Pest informieren, die 1348 Siena heimsuchte, über Ratten kundig machen und sich Krankheitsmythen und –symptome ausdenken, sich pathologisch beraten lassen und einen Deutschland-Trip unternehmen, der sie auch nach Leverkusen führt, verrinnt nicht nur die Zeit; auch der Film, ein abenteuerliches Melodram mit Gothic-Elementen, nimmt – vor ihrem geistigen Auge – Gestalt an. Doch es hilft alles nichts. Am Ende der Woche sind gerade mal 15 Manuskriptseiten geschafft. Während auf den Straßen wirklich Menschen von einer tückischen Krankheit dahingerafft werden, soll der Vertreter des Dänischen Filminstituts beim Wein von der Sprengkraft der Epidemic-Idee mittels eines Mediums überzeugt werden. Unter Hypnose werden Fortgang der Seuche, aufbrechende Geschwüre, Ströme von Blut beschrieben und beschworen, doch das ist längst kein Film mehr, die Idee hat ihre Denker ein- und überholt – der Rest ist Blut und Schweigen. „Epidemic“, 1987 fertiggestellt, ist nicht nur der Mittelteil von Lars von Triers Europa-Trilogie (zwischen „The Element of Crime“, fd 25 122, und „Europa“, fd 28 983), sondern – wenn man so will – der Schlüssel zu von Triers filmischem Universum. Vielleicht ist das der Grund, warum der Filmtitel während der ganzen Spieldauer als dunkelrotes eingetragenes Warenzeichen, als Trademark, am linken oberen Bildrand prangt. Denn vieles, was hier nur angedeutet wird, findet erst später Vertiefung und Ausformung. Nicht nur das Sujet deutet das morbide „Kingdom“ (fd 31 390) an, auch Udo Kier tritt bereits in Erscheinung. Das Wasser hat seine lebensspendende Kraft verloren, fungiert eher als „geronnene Zeit“; auch ein Tupfer Religion darf nicht fehlen, wenn auch hier nur als Drehbucheinfall, um etwas Humor in die Tragödie zu bringen. Nicht zu vergessen die Produktionsbedingungen und die Arbeitsmethodik, die sich wie Vorstudien zu „Dogma“ ausnehmen. Der Film wurde mit einer Million dänischer Kronen gedreht – damals lagen die üblichen Kosten sieben bis acht mal so hoch –, was zu flexibleren Produktionsstrukturen führte und von Trier und seinem Autor Niels Vørsel Credits für Regie und Buch sowie für Kamera, Schnitt und Darstellung einbrachte – von Trier spielt sogar eine Doppelrolle. Doch nicht nur in dieser in die Zukunft gerichteten Perspektive ist „Epidemic“ von hohem Interesse, auch als geschlossenes Werk leistet der Film Beachtliches. Angelegt als „Film im Film“, wird die lange Rahmenhandlung – die Stoffentwicklung – als schmuddeliger, grobkörniger Schwarz-weiß-Film dargeboten, während die bereits fertig gestellten Szenen um Dr. Mesmer gestochen scharf und bis ins Letzte durchkomponiert sind. Die Kamera führte in diesen Sequenzen Hennig Bendtsen, der Kameramann des von von Tier verehrten Carl Theodor Dreyer (u.a. „Gertrud“). Solche Reminiszenzen verweisen nicht nur auf eine der Glanzzeiten des dänischen Films, sie sind generell dem unabhängigen Autorenfilm gewidmet. So erinnert die lange Fahrt durch Deutschland und das Ruhrgebiet nicht von ungefähr an Wim Wenders, und wenn es um den Zerfall von Träumen geht, dann ist Bob Rafelsons „Der König von Marvin Gardens“ (1972) nicht nur durch eine Brieffreundin in Atlantic City vertreten, sondern wird auch namentlich erwähnt. Auch der Paukenschlag am Ende, Hysterie, Horror und Terror, hat seine Vorbilder, u.a. den frühen George Romero. Doch von Trier wäre nicht von Trier, würde er nicht auch ganz persönliche Steckenpferde reiten, etwa sein Spiel mit der Hypnose, die in allen Teilen der „Europa“-Trilogie eine Rolle spielt. Es scheint, als ließe sich der wahre Stand der Dinge, die (kulturelle) Befindlichkeit Europas, der Verfall und Verlust in den 1980er-Jahren, nur im Zustand der Trance erkennen und ertragen. Wobei die Entrückung durch den Mesmerismus im Falle von „Epidemic“ keinen Erfahrungszugewinn beschert, sondern mit dem puren Grauen konfrontiert, mit Ängsten, die durch soziale und kulturelle Netzwerke im Zaum gehalten werden können. Aber wehe, wenn diese Dämme brechen! Wenn dem Spiel mit der Angst das Spielerische abhanden kommt. Das mag Trierscher Kulturpessimismus sein oder seine ganz spezielle Art eines morbiden Humors, der hier wie in anderen Filmen immer wieder aufscheint. Wer sonst würde, wenn er sich über Seuchen informiert und über eine verheerende önologische Krankheit dozieren lässt, von Phylloxera reden, wenn er auch Reblaus sagen könnte.
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