Ein proletarisches Wintermärchen
Satire | Deutschland 2014 | 63 Minuten
Regie: Julian Radlmaier
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2014
- Produktionsfirma
- Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin
- Regie
- Julian Radlmaier
- Buch
- Julian Radlmaier
- Kamera
- Markus Koob
- Schnitt
- Julian Radlmaier
- Darsteller
- Natja Bakhtadze (Natia) · Aleksandre Koberidze (Schota) · Ilia Korkashvili (Schota) · Lars Rudolph (Herr Teltow) · Sebastian Smulders (Deutschproll)
- Länge
- 63 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Satire
- Externe Links
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Heimkino
Drei Georgier, zwei Männer und eine Frau, werden vor einem brandenburgischen Schloss abgesetzt. Sie sollen das Gebäude, in dem eine prominent besetzte Vernissage geplant ist, reinigen, dabei – so wird gefordert – „verantwortungsvoll“ als „fleischgewordene Unternehmensphilosophie“ agieren und somit zusätzlich auch noch werblich im Sinne des „Lebensgefühls“ der Reinigungsfirma tätig werden. Im Schloss selbst werden die Reinigungskräfte, die sich schnell als melancholische Meister der subversiven Prokrastination und fantastische Geschichtenerzähler erweisen, argwöhnisch, aber zumeist vergeblich vom Hausmeister Teltow beaufsichtigt. Der, ein Apokalyptiker vor dem Herrn, ahnt Schlimmes nahen: „Ist das Gebälk erst angefressen, hat der Ostwind leichtes Spiel!“ Bis zuletzt aber werde er, der Hausmeister, die Ordnung gegen die Usurpation durch das Lumpenproletariat verteidigen. Diese Ordnung erweist sich bei näherem Hinsehen als eine streng hierarchische Klassengesellschaft, in der Lakaien wie Teltow zwar den Klassenkampf bis zur körperlichen Erschöpfung führen, dabei aber längst ein Bewusstsein für die eigene Klassenlage verloren haben. Wiewohl er einstmals wohl ein aufrechter „Genosse“ gewesen sein muss, wie einmal erzählt wird. Wenn die Herrschaft im Treppenhaus einmal versehentlich dem Lumpenproletariat begegnet, setzt es ein heftiges Erschrecken. Auf Seiten der Herrschaft, der der Anblick Missvergnügen bereitet. In allerlei sehr schönen, anspielungsreichen Szenen zeigt der Film, wie sich die Georgier bei der Arbeit erzählend die Zeit vertreiben, amerikanische und britische Kultur gegeneinander abwägend, stets (auch buchstäblich) schwankend zwischen klassenbewusstem Hochmut, Verweigerung, Unterwerfung und Grazie, wenn die Böden aus „ostpreußischem Nussbaumparkett“ in der Manier von Schlittschuhläufern gereinigt werden. Es geht also alles auf amüsante Weise nicht recht voran, obwohl sich die „Eventdesigner“ für die Ausstellungseröffnung ein ausgeklügeltes Licht- und Raumkonzept ausgedacht haben. Als das Event dann tatsächlich stattfindet, ist niemand an der Kunst interessiert. Stattdessen wird über das Nationale und das Finanzjudentum parliert, während im Hinterzimmer ein Minister mit dem Vertreter der Rüstungsindustrie um den nächsten Job im Aufsichtsrat feilscht. Julian Radlmeier ist mit seinem zweiten, mittellangen Film „Ein proletarisches Wintermärchen“ eine hinreißende Polit-Komödie zu eigentlich gar nicht so komischen Themen wie Taktik im Klassenkampf, divergierende Klasseninteressen, falsches Bewusstsein, Solidarisierung und Verteilungsgerechtigkeit gelungen. Der Film ist nun als Bonus auf der DVD-Edition seines dritten Films „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ enthalten, mit dem der Film zudem allerlei Themen (Klassenbewusstsein, Solidarität, Franz von Assisi), Darsteller (Kyung-Taek Lie), Fragen und Haltungen teilt. Gleich zu Beginn des Films wird postuliert, dass im Detail die Kraft liege: im Geschäftsleben wie in der Malerei. Was als Aussage in der betreffenden Szene zunächst nur als Zynismus und Ausdruck der herrschenden Selbstoptimierungsideologie erscheint, wird im weiteren Verlauf des Films durchaus mit Leben erfüllt. Radlmeier bezieht sich in vielfältiger Weise auf die Filmgeschichte von Slapstick bis Godard, von Griffiths bis Pasolini, von kommentierenden Inserts bis Akteinteilungen, konfrontiert ganz unterschiedliche Ausdrucksformen vom forciert Theatralischen bis hin zum Boulevardesken, nutzt ausgiebig die architektonischen Möglichkeiten des Schlosses mit den Treppen, Gängen, Hallen und Türen. Anspielungen auf die Kunstgeschichte, auf Suprematismus und Surrealismus treten hinzu, wenn postuliert wird, dass die Geschichte vom deutlich sichtbaren schwarzen Loch erzählt werde oder ganz nebenbei Lautréamont zitiert wird, der in den „Gesängen des Maldoror so wirkmächtig das Bild vom „zufälligen Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ evozierte. Dazu passt die bei allem Anspielungsreichtum ausgelassene Fabulierlust nicht nur des Films, sondern – als Film im Film – auch der drei georgischen Protagonisten, die die verhandelten Themen mäandernd und metaphorisch variieren (Hierarchien, Widerstand, Korrumpierung, Zufall) und wortwörtlich genommen als nicht direkt anschlussfähig angesehen werden. Nachdem eine surreale Wolke die vom Hunger in die Schlossküche Getriebenen wieder in ihre Dachkammer verbannt hat, hilft der Fiktion schließlich nur noch die Flucht aus dem Dachfenster. Zusammen mit der folkloristischen Musik lese kann man dies auch als eine kleine Verbeugung vor den absurden Konstellationen des georgischen Kinos eines Otar Iosseliani oder Dito Dsintsadze lesen.