Christopher Nolan ist ein Weltenbauer. Der Regisseur ist in die tiefsten Tiefen der Träume und Erinnerungen vorgedrungen, er wagte sich in die Weiten des Weltalls und sogar ins verminte Gelände des Superhelden-Genres. Stets machte er sich dabei die Zeit so zu Eigen, wie es der jeweiligen Erzählung am besten diente. Mehr noch: Das Ineinanderfalten und Spreizen, die Dopplung und Rückführung der Zeitströme wurde bei ihm oft zur Erzählung selbst, wenn man beispielsweise an „Inception“ oder „Interstellar“ denkt.
Wie aber geht einer wie Nolan mit der beglaubigten Historie um? Wie viele Eingriffe verträgt die tatsächlich vergangene Zeit, wie viel Fantasie das reale Ereignis? Nolan erzählt die Evakuierung der im Mai 1940 gemeinsam mit den Franzosen am Strand von Dünkirchen eingekesselten britischen Soldaten in drei Episoden: Eine Woche lang versucht Soldat Tommy, zusammen mit zwei Kumpanen und Hunderttausenden anderer Soldaten vom Strand aus ein rettendes Boot zu erreichen, wobei er die Bomben der deutschen Luftwaffe und sinkende Schiffe überlebt. Einen Tag braucht Mr. Dawson zusammen mit seinem Sohn Peter und dem Schiffsjungen George auf dem Seeweg von England nach Belgien; wie viele andere ist er dem Aufruf gefolgt, die Evakuierung als Zivilist zu unterstützen. Und eine Stunde bleibt zwei Piloten der Royal Air Force, diese Aktion aus der Luft zu sichern, bevor ihren Spitfire-Fliegern der Treibstoff ausgeht.
Diese Sparsamkeit ist historisch belegt: Die Briten ahnten einen kräftezehrenden Kampf um die Heimat, für den so viele Maschinen, Menschen und Ressourcen wie möglich aufgehoben werden sollten. Gleichzeitig spiegelt sich diese Haltung auf eigentümliche Weise zumindest in der klassischen Breitwand-Variante, in dem die meisten Zuschauer den an sich für das epische 70mm-IMAX-Format gestalteten Film sehen werden: Es gibt in dieser Erzählung keine Faszination der Zerstörung, auch keine Faszination der beweglichen Masse.
Die Hilflosigkeit einiger Rezensenten, die Nolan eine fragwürdige Anpassung seiner Spektakel-Inszenierungen an eine wahre Leidensgeschichte vorwarfen, zielt eher auf die Entkontextualisierung der Geschehnisse. Das grausame Schlachten, das sich anderswo im Zweiten Weltkrieg täglich abspielte, ist hier nicht zu sehen. Wohl aber von Zeit zu Zeit zu hören: Hans Zimmer, ansonsten wahrlich nicht für die leisen Töne bekannt, legt immer wieder ein zartes Wimmern und Heulen unter die Bilder, was entfernt an Luftalarmsirenen denken lässt. Das Umpfen und Stöhnen eines im Wasser unter brennendem Öl eingeschlossenen Soldaten, der sich nur noch entscheiden kann, mit Sicherheit zu ersticken oder wahrscheinlich zu verbrennen, gehört zu den furchtbarsten Geräuschen, die in jüngster Zeit im Kino zu vernehmen waren. Doch das Exemplarische bricht in Nolans Version der Geschehnisse von Dünkirchen selten an die Oberfläche, stets behält das Individuelle seinen Rang. Selbst der Schweigsamste in einem schweigsamen Film, der von Tom Hardy gespielte Pilot, dessen Gesicht im Cockpit halb verdeckt ist und der bald keinen Ansprechpartner über Funk mehr hat, erlebt Dilemmata und trifft Entscheidungen, die seine Erlebnisse über den Rang des Beispielhaften herausheben. Gleichwohl zeigt Nolan Menschen, an denen ein Beispiel zu nehmen wäre. Aber das Pathos hält hier immer nur wenige Einstellungen an.
Drumherum stürzt die Erzählung von einem reizvollen Paradox ins Nächste: Während sich das Kriegsgeschehen auf einen historischen Moment reduziert, fächert es die dramaturgische Struktur in eine Vielfalt auf, die von großer künstlerischer Präzision geordnet und zusammengehalten wird. In manchen Augenblicken lässt sich der Film wie ein Meta-Kommentar zum zeitgenössischen Kino lesen: Ein Schnitt von Dawsons Boot zu einer Großaufnahme des Gesichts des Piloten kann nur deshalb – und hier irrtümlicherweise – für einen direkten chronologischen Anschluss gehalten werden, weil in aktuellen Blockbustern immer so furchtbar viel gleichzeitig passiert. Weil man sich daran gewöhnt hat, dass Aktion und Emotion, das Gefechtsbild und das Schicksal des Einzelnen in Sekundenschnelle wechseln. Es spricht für die Kompetenz des Publikums, in diesen Filmen die Orientierung zu behalten. Und es spricht für Nolans Konzept, dass er kleine Irritationen in die Selbstverständlichkeit dieser Rezeption streut und so zur Reflexion anregt.