Wie ein Blinzeln in der Dunkelheit drängen düstere Szenen ans Licht und ins Gehör: Eine Kinderstimme zählt von 15 an rückwärts. Ein Mann ringt unter einer Plastikfolie stumm nach Luft. Eine Kette mit dem Namen Sandy, ein blutiges Taschentuch. Lauter Schnipsel einer gewaltdurchwirkten Kindheit, aber auch eines Kriegseinsatzes ergießen sich über die Leinwand. Dieser Filmbeginn ist ein atmosphärischer Albtraum aus scheinbar zusammenhanglosen Szenen, die sich in der Nacht heruntergekommener Hinterhöfe auflösen. Endlich findet die Kamera in einem Mann mit Kapuze einen Anhaltspunkt. Er wird aus dem Hinterhalt angegriffen, schlägt zurück, steigt in ein Taxi und findet im leisen Gesang des Fahrers endlich Ruhe.
„A Beautiful Day“ beginnt mit einem nächtlichen Großstadtmilieu und einem Bewohner, dem schon Blut an den Händen klebt, ehe seine Mission enthüllt wird. Joe war früher beim FBI und im Krieg, mutmaßlich in Afghanistan. Jetzt arbeitet er als Privatdetektiv, der entführte Kinder aufspürt. Diese Jobs vermittelt ein Freund, auch den Kontakt zum Senator Albert Votto, dessen minderjährige Tochter Nina anscheinend in einem illegalen Bordell festgehalten wird. „Sie sollen brutal sein?“, fragt Votto. „Kann ich sein“, antwortet sein wortkarges Gegenüber.
Viel erfährt man nicht über diesen bärtigen Mann, der sich, nur mit einem Hammer bewaffnet, auf den Weg macht, um auf alles einzuschlagen, was sich ihm und seiner Rettungsaktion in den Weg stellt. Nur, dass er eine demente Mutter hat, die er liebt und pflegt. Und dass sein Herz für missbrauchte Kinder schlägt, weil ihr Schicksal seinem eigenen ähnelt. Das bestimmt seine einsame Gefühlswelt, die hinter der Gewalttätigkeit immer mal wieder hervorblitzt. Jetzt aber hat Joe in ein Wespennest gestochen, das sein eigenes Nest, das ihm Sicherheit in der Anonymität gewährt, zu zerreißen droht. Die Geister der Vergangenheit lassen ohnehin nicht lange auf sich warten.
Gnadenloser Killer, fürsorglicher Sohn, traumatisierter Held. Für diese ambivalente Rolle hat der US-Schauspieler Joaquin Phoenix einige Kilo zugelegt, die er mit bullig vernarbtem Körper durchs Bild schiebt, und dabei an Vorgänger wie Robert De Niro oder Jean Reno denken lässt. Auch in „Taxi Driver“
(fd 19 983) und „Léon – Der Profi“
(fd 31 164) werden einsame, gefühlskalte und im Grunde unreife Männer mit jungen Mädchen konfrontiert, für die sie Verantwortung übernehmen.
Selten aber wurde diese anrührende Konstellation mit einer solchen Bilderwucht wie hier von Lynne Ramsay erzählt. Sie ist eine der wenigen Autorenfilmerinnen, denen man solch ein knallhartes Kino zutraut. Schon „We Need to Talk About Kevin“
(fd 41 208), „Ratcatcher“
(fd 34 651) und „Morvern Callar“ (2002) zeichneten sich durch eine Kompromisslosigkeit aus, die in den Milieuzeichnungen vor keiner Härte und keinem blutigen Kamerawinkel zurückschreckten.
„You Were Never Really Here“, so der anklagende Originaltitel, wirkt dabei selbst wie ein Hammerschlag, zu dem der Protagonist kraftvoll ausholt. Das lässt einen vor allem auf der Tonspur nicht mehr los. Der Filmkomponist Jonny Greenwood hat wie in „There Will Be Blood“
(fd 38 585) eine vergleichbar dröhnende, beunruhigende Tonspur des Terrors geschaffen. Ohne viele Worte, aber mit umso lautstärker einbrechenden Dissonanzen baut die Inszenierung einen immensen Druck auf. Sie macht den Sound der Stadt mitsamt der ihr innewohnenden Gewalttätigkeit geradezu fühlbar; im Lärm der anderen aber scheinen Joes schreckliche Erinnerungen schneller abzuebben. Einen ähnlichen Effekt besitzt auch die Fürsorge für die demente Mutter, die ihn aufreibt, ihm aber auch intime Momente der Ruhe schenkt. In solch einer Umgebung kann selbst eine die Atemluft raubende Tüte über dem Kopf zum Werkzeug der Selbsthypnose werden, mit der Joe als Kind die Realität aussperrte und als Erwachsener nun ungebetene Gedanken.
„A Beautiful Day“ ist als faszinierend binäres Charakterporträt zwischen Brutalität und Zartheit angelegt, was sich auch in der kontrastreichen Bild- und Tongestaltung widerspiegelt. Allerdings haftet dieser kunstvollen Verfremdung etwas Prätentiöses, weniger Direktes als den bisherigen Filmen von Ramsay an. Doch die Inszenierung gewinnt dadurch eine packende Intensität, die sich in Ramsays bisherigem Werk eher in narrativen Zwischentönen spiegelte.
„A Beautiful Day“ ist eine cineastische Erfahrung, eine von harten Einbrüchen geprägte Achterbahnfahrt durch die Untiefen von Joes Traumata, die nur langsam, (alb)traumartig ans Licht kommen. So steigt aus der Dunkelheit doch noch etwas Helles hervor: Aus Joes ewiger Nacht wird Ninas „beautiful day“.