Um einer Frau zu gefallen, tarnt ein angehender Filmemacher seinen Hartz-IV-Job auf einer Apfelplantage in der brandenburgischen Provinz als Recherche für ein kommunistisches Filmprojekt. Vor Ort gerät er in eine provisorische Revolution der Erntehelfer gegen die Plantagenbesitzerin. Mit doppelbödigem Humor und vielen Anspielungen entfaltet der spielerische Film ein Panorama unterschiedlicher Milieus, in denen der neoliberale Kapitalismus ebenso zerpflückt wird wie das revolutionäre Pathos. Indem er selbstironisch die Rolle eines „politischen“ Filmemachers hinterfragt, eröffnen sich der Frage nach dem utopischen Potenzial des Kinos neue Räume.
- Sehenswert ab 14.
Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes
Komödie | Deutschland 2017 | 104 Minuten
Regie: Julian Radlmaier
Kommentieren
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2017
- Produktionsfirma
- Faktura Film/dffb/rbb
- Regie
- Julian Radlmaier
- Buch
- Julian Radlmaier
- Kamera
- Markus Koob
- Schnitt
- Julian Radlmaier
- Darsteller
- Julian Radlmaier (Julian) · Deragh Campbell (Camille) · Kyung-Taek Lie (Hong) · Beniamin Forti (Sancho) · Ilia Korkashvili (Mönch)
- Länge
- 104 Minuten
- Kinostart
- 08.06.2017
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Komödie
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Humorvoll-intelligente Komödie über das utopische Potenzial des Kinos
Diskussion
Das Prekariat zieht, teils hoffnungsvoll, teils widerwillig, ins Apfelparadies, das seinen Namen „Oklahoma“ vielleicht Kafkas Naturtheater in „Der Verschollene“ verdankt. Jedenfalls wirbt es mit denselben Worten um Arbeitskräfte: „Jeder ist willkommen!“
Hong und Sancho, die nach ihrem Rausschmiss als unzuverlässige Aufseher im Kunstmuseum das Kapitel der Lohnarbeit abgeschlossen haben, aber der Perspektive als selbstständige Pfandflaschensammler in Berlin nicht trauen, scheint das Angebot der ländlichen Apfel-Plantage ein Versprechen aufs Paradies.
Ganz anders sieht die Sache bei dem Filmemacher Julian aus. Dessen politisch wie ästhetisch radikale Filme haben in der deutschen Film- und Medienlandschaft einen schweren Stand, weshalb die Hinwendung zum Narrativen, die seinen jüngsten Film auszeichnete, zwar noch nicht den erhofften Erfolg, aber die Schelte der linken Filmkritik brachte. In der Hoffnung auf eine Drehbuchförderung lebt Julian momentan von Hartz IV; nach Möglichkeit soll sein Hipster-Bekanntenkreis davon aber nichts erfahren.
Da jedoch schlägt das Jobcenter zu: Auch Julian wird zum Ernteeinsatz auf die Apfelplantage beordert. Darauf angesprochen, erklärt Julian auf der Party seines ex-maoistischen Alt-68er Ex-Professors die Landpartie schlicht zur Recherche für seinen nächsten Film über die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Erntearbeitern. Es solle ein Märchen über die süße Schönheit der kommunistischen Utopie werden. Die Kanadierin Camille, Tochter aus reichem Hause und eigentlich recht skeptisch gegenüber den Avancen des Sprücheklopfers Julian, findet diese Idee dann doch so romantisch, dass sie den Möchtegern-Filmemacher bei seiner „Recherche“ begleitet.
Spielerisch, voll doppelbödigem Humor und äußerst anspielungsreich entwirft Julian Radlmaier in seinem dffb-Abschlussfilm ein Panorama durch Sprache und Habitus vermittelter Milieus, um den „Traum von einer Sache“ (Marx) noch einmal als Komödie durchzuspielen. „Das Komische ist die ideale Form, um widerstreitende Ideen und Begriffe in neue (Un-)Sinnzusammenhänge zu bringen, ohne dass der realistische Wahrscheinlichkeitszwang diesem Spiel allzu sehr entgegensteht“, erklärt Radlmaier, der auch als Übersetzer und Herausgeber von Texten des französischen Philosophen Jacques Rancière hervorgetreten ist.
In sehr komischen Episoden zeigt der Film, wie der neoliberale Kapitalismus seine Ausbeutung durch eine „Apfelernte-Olympiade“ camoufliert, warum unter dem Prekariat eher nicht mit Solidarität oder einem Klassenbewusstsein zu rechnen ist, und dass es in Machtfragen von Vorteil ist, wenn man mit dem real existierenden Sozialismus bereits Erfahrungen gemacht hat wie etwa der Georgier Zurab. Radlmaier erzählt lustvoll von Arbeitsteilung und Tauschwert und lässt über die Möglichkeit eines Streiks oder einer Revolution nachdenken.
Der Regisseur, der die Rolle des Filmemacher Julian selbst übernommen hat, spielt mit Zitaten von Deleuze, lässt an Trotzki und Stalin denken, verbeugt sich filmisch vor Rossellini, Huillet/Straub, Pasolini, Renoir und dem russischen Revolutionsfilm und zeigt unmissverständlich, dass der verliebte, pseudo-radikale Neo-Kommunist wachsende Schwierigkeiten hat, diese „Haltung“ überzeugend auszufüllen. Die angebetete Camille bringt es irgendwann auf den Punkt: „Du bist ein ziemliches Arschloch für einen kommunistischen Filmemacher.“
Als dann plötzlich die Plantagenbesitzerin unter grotesken Umständen außer Gefecht gesetzt wird, steht der Machtübernahme durch ein kommunistisches Kollektiv eigentlich nichts mehr im Weg. Weil einige der Arbeiter aber den real existierenden Sozialismus am eigenen Leib erlebt haben, löst diese Option nicht nur Freude aus. Der Kommunismus sei schön und gut, aber der Sozialismus davor? Ach herrje! Zurab, das georgische Schlitzohr, plädiert für einen Bolschewismus alter Schule, doch die anderen wollen den Kommunismus lieber hedonistisch, anarchistisch und demokratisch: „Das Problem ist nicht der Kommunismus, sondern die Kommunisten!“
Der Traum von der Revolution wird an einem langen Tisch unter freiem Himmel zelebriert, währt aber erschütternd kurz. Da kommt dann die erhoffte Drehbuchförderung gerade recht, um die Apfelplantage hinter sich zu lassen und einen Film zu drehen, der es Julian erlaubt, bei der Premiere vom Scheitern der Utopie zu sprechen, obwohl der Film, den man soeben gesehen hat, dieses Scheitern gar nicht gezeigt hat.
Camille, Hong und Sancho machen sich derweil auf nach Italien, weil die Vögel einem Franziskaner-Mönch gezwitschert haben, dass dort die Revolution geglückt sei. Vögeln, so stellt sich heraus, ist allerdings so wenig zu trauen wie kommunistischen Filmemachern aus Berlin-Mitte, deren Credo lautet: „Deswegen brauchen wir die Kunst. Damit die Möglichkeit des Wandels als Form überleben kann.“
Als Julian schließlich auf dem Filmfestival von Venedig seinen zutiefst pessimistischen Film-im-Film „The Pursuit of Happiness“ vorstellt und im Gespräch den Arbeitern auf der Apfel-Plantage ihre Intelligenz abspricht, geschieht ein kleines Wunder, worauf der Filmtitel zuallererst abhebt. Aber das muss man gesehen haben.
Kommentar verfassen