Die Mutter des erst 18-jährigen Dokumentaristen ist seit langem an Multipler Sklerose erkrankt. Erst als sie nicht mehr sprechen kann, setzt er sich tiefer mit ihrer Krankheit auseinander, will mehr darüber erfahren und nimmt Kontakt zu anderen Menschen auf, die mit MS leben. So begegnet er Personen, die ihm Auskunft geben über positive wie auch die zutiefst dunklen Momente in ihrem Leben, was die Kamera aus respektvoller Distanz, aber doch mit großer Intensität festhält. Ein ebenso vielschichtiger wie mutiger Film über schwierige existenzielle Fragen.
- Ab 16.
Multiple Schicksale - Vom Kampf um den eigenen Körper
Dokumentarfilm | Schweiz 2015 | 89 Minuten
Regie: Jann Kessler
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Filmdaten
- Originaltitel
- MULTIPLE SCHICKSALE - VOM KAMPF UM DEN EIGENEN KÖRPER
- Produktionsland
- Schweiz
- Produktionsjahr
- 2015
- Produktionsfirma
- Revolta Prod.
- Regie
- Jann Kessler
- Buch
- Jann Kessler
- Kamera
- Jann Kessler · Jürg Kessler
- Musik
- Simeon Wälti · Samuel Deubelbeiss
- Schnitt
- Martin Witz · Jann Kessler
- Länge
- 89 Minuten
- Kinostart
- 15.09.2016
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm | Drama
- Externe Links
- IMDb
Heimkino
Sehr persönlicher Dokumentarfilm über Multiple Sklerose und wie Menschen mit dieser Krankheit umgehen.
Diskussion
Wäre es nicht etwas makaber, könnte man sagen, dass Multiple Sklerose (MS) als Krankheit gerade ziemlich angesagt ist. Wenn in einem Fernsehfilm die Rivalin durch eine körperliche Schwäche gekennzeichnet werden soll, greift das Drehbuch gerne auf MS zurück, weil es zur Charakteristik dieser Krankheit gehört, dass sie so vielgestaltig ist: vom gestörten Gleichgewichtssinn über Konzentrationsprobleme, Erschöpfungszustände, Seh- und Gehprobleme bis hin zu Lähmung und Sprachverlust.
Obwohl in die MS-Forschung schon sehr viel Geld investiert wurde, ist es bislang nicht gelungen, die Ursache für die sich in der nördlichen Hemisphäre rasant ausbreitende Erkrankung des zentralen Nervensystems zu bestimmen. Dass nun auch vermehrt Dokumentarfilme zum Thema MS aus der Sicht Betroffener produziert werden (zuletzt „Kleine graue Wolke“, fd 43 372), könnte ein Hinweis darauf sein, dass verstärkt Rede- und Informationsbedarf besteht.
Im Falle des jungen Schweizer Filmemachers Jann Kessler ist die eigene Mutter an MS erkrankt und mittlerweile ein Pflegefall, bewegungsunfähig und sprachlos. Kessler hat lange versucht, der Krankheit aus dem Weg zu gehen. Als er mehr wissen will, kann die Mutter nicht mehr antworten. Deshalb begibt er sich auf eine Reise durch die deutschsprachige Schweiz, um andere Menschen zu treffen, die mit MS leben lernen mussten.
Im Falle von MS gilt: Jede Erscheinungsform der Krankheit ist ein Unikat. Mal verläuft die Krankheit schleichend, mal schubförmig – und mit Schüben ganz unterschiedlicher Heftigkeit. Entsprechend unterschiedlich sind die Protagonisten, die Kessler für den Film ausgewählt hat. Für alle an MS Erkrankten und ihr soziales Umfeld zieht die Diagnose der Krankheit eine radikale Veränderung ihres Lebens nach sich. Was bedeutet es, wenn man als junge, sportliche Erwachsene mit einer sehr aggressiven Form der Krankheit konfrontiert wird? Wenn Berufsunfähigkeit und soziale Isolation drohen? Wenn die Bewegungsfreiheit fortfällt?
In einigen Szenen erlaubt sich „Multiple Schicksale“ eine erstaunliche Schonungslosigkeit in der Darstellung der Folgen der Krankheit, die die Trauer, Ohnmacht, Verzweiflung und Wut der Patienten spürbar werden lassen. Aber es gibt auch Rationalisierungs- und Sinnstiftungsversuche. Signalisiert der Körper via Krankheit, dass ein Leben auf der Überholspur auf Dauer nicht okay ist? Müssen wir dringend unseren Alltag entschleunigen? Sollten wir lernen, uns wieder über die kleinen Dinge des Lebens zu freuen? Wo beginnt und wo endet die Selbstbestimmung? Kann man Strategien entwickeln, mit der Krankheit ein, nun allerdings anderes Leben zu leben? Soll man die Krankheit öffentlich machen? Wie reagiert die Leistungsgesellschaft auf Erschöpfung und verminderte Leistungsfähigkeit? Und religiös gewendet: Was sagt Gott zu MS? Oder MS über Gott?
Es ist mehr als erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit und Souveränität es Kessler gelingt, die unterschiedlichsten emotionalen wie intellektuellen Perspektiven auf die Krankheit herauszuarbeiten. Seine Protagonisten sind echte Glücksfälle. Auffällig ist die Abwesenheit von Neurologen, Psycho- und Physiotherapeuten, auch über die unterschiedlichen Therapieansätze im Umgang mit Schüben erfährt man wenig. Auch von Cortison und anderen Medikamenten ist kaum einmal die Rede. Dafür wagt sich der Film ins brisant Kontroverse, weil sich einer der Protagonisten, dessen Zustand sich im Laufe der Dreharbeiten drastisch verschlechtert hat, für den Suizid durch eine Sterbehilfe entscheidet. Zwar ist dieses Thema untergründig während des gesamten Films präsent, doch dann wird offen darüber geredet. Kessler begleitet den Suizidalen mit seiner Familie quasi bis zum Schluss. Mit Gespür für die Emotionen, aber ohne sentimentale Rührseligkeit wird auch davon gesprochen, dass für die Hinterbliebenen ein neues Leben möglich ist, das nicht mehr im Zeichen der Krankheit steht.
Nach dieser Grenzüberschreitung, die dem Film auch Kritik eingetragen hat, die aber zum Reden über MS gehören muss, scheint der Filmemacher Angst vor der eigenen Courage bekommen zu haben, denn im letzten Viertel werden Bilder von Solidarität, Hilfe und Gemeinschaft versammelt, verbunden mit aus dem Off verlesenen Passagen aus Hermann Hesses Roman „Siddartha“, in denen die Erfahrung der Krankheit auf verquere Weise mit Sinnstiftungsmodellen östlicher Esoterik verbunden ist: „Auf seinem Gesicht blühte die Heiterkeit des Wissens, dem kein Wille mehr entgegensteht, das einverstanden ist mit dem Fluss des Geschehens.“
Zum Ende hin schlägt der sehr mutige, nichts beschönigende Film unvermittelt in von gefühliger Musik begleiteten Kitsch um, der sich aus der Härte des Gezeigten auf Hesses butterweichen und in diesem Kontext – bei allem Respekt – zynischen west-östlichen Diwan der Ich-Auflösung flüchtet, die wenig fruchtet, wenn man den eigenen Körper als Gefängnis erfährt. Was nur dann auszuhalten ist, wenn man „Multiple Schicksale“ eben auch als schmerzhaft-autobiografisches Projekt eines trotz allem noch sehr jungen Filmemachers begreift.
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