Wintergast

So erträumt man sich einen Start ins Filmgeschäft! Ein Kurzfilm räumt einen renommierten Preis ab, es folgen Lob von allen Seiten, Interviews und der Vertrag über den ersten Spielfilm mit einer enthusiastischen Produzentin. Ein Traum, zu schön um wahr zu sein, zumindest für Stefan Keller. Fünf Jahre nach dem triumphalen Einstieg ist der Rausch längst verflogen. Zwar hat er sein Projekt beileibe nicht aufgegeben, füllt immer mal wieder Seiten mit Notizen und ist scheinbar weiterhin mit dem Herzen dabei. Tatsächlich jedoch ist sein Drehbuch noch nicht über den (Arbeits-)Titel und die ersten zwei Sätze hinausgekommen. Dass Keller des Öfteren bei Google die Suchanfrage „relevante Themen“ stellt, flößt auch nicht gerade viel Vertrauen für sein Projekt ein. Das sieht zunehmend auch seine Umwelt so: Kellers Produzentin setzt ihm ein Ultimatum für die Abgabe, die Vermieterin verlangt das ausstehende Geld, seine Freundin trennt sich von ihm, weil er ihren Kinderwunsch stets mit Hinweis auf seine Drehbucharbeit abgebogen hat, und auch von seinem Vater ist keine Unterstützung mehr zu erwarten. Dem allseits verkannten Künstler bleibt nur, sich kurzfristig einen Job zu suchen, und so sieht man Keller bald quer durch die Schweiz reisen, um kurz vor Weihnachten fast leere Jugendherbergen auf ihre Sauberkeit und Funktionstüchtigkeit hin zu bewerten. „Wintergast“, das Spielfilmdebüt der beiden Schweizer Matthias Günter und Andy Herzog, setzt diese Odyssee in markanten Schwarzweiß-Bildern eines verschneiten, ziemlich trostlosen Landes um. Keller ist in zahlreichen, oft nur kurzen Episoden dabei zu sehen, wie er routiniert Staubschichten auf Schränken kontrolliert oder Wasserhähne austestet, über lahme Kaffeeautomaten und eigenwillige Frühstücksbüffets staunt und dann mit Bahn oder Bus in die nächste anonym erscheinende Stadt aufbricht. Laptop und Handy hat er ständig parat, doch seine Kreativität wird auch durch den Ortswechsel nicht weiter angeregt. Die Welt scheint an ihm vorbeizulaufen. Die Inszenierung betont diese gemächliche Seite der Hauptfigur durch die melancholische Musikuntermalung, den lautlos fallenden Schnee und das generelle Fehlen lauter Geräusche zusätzlich. Der Film könnte eine Studie in Schwermut sein, ein deprimierendes Abbild einer erstarrten Schweiz, wie es „Reisender Krieger“ (1979) über einen glücklosen Parfümvertreter war – ein semidokumentarischer nationaler Klassiker von Christian Schocher, auf den sich die Regisseure explizit berufen. Doch ihr sanft dahingleitendes Road Movie ist weniger eine Schweiz-Demontage als eine Meditation über verpasste Chancen, Unsicherheit und Ziellosigkeit, mit tiefer Sympathie für die Hauptfigur, die Andy Herzog selbst spielt. Zudem steckt der Film voll amüsanter Details, die sich insbesondere aus Kellers Einfallsreichtum beim Aufschieben seiner Schreibarbeit ergeben. Stühle und Tische muss er erst verrücken und Stifte und Papier akkurat bereitlegen, und alles nur, um nach kurzer Zeit regelmäßig wieder aufzustehen und andere, „dringendere“ Sachen zu tun: Fernsehen, putzen, Flaschen wegbringen oder auf ein Bier in eine Kneipe gehen. Ergänzt wird diese Form genau beobachteten, aus dem Leben gegriffenen Humors durch zauberhafte Episoden wie ein gemütvolles Zusammentreffen von Weihnachtsmännern „außer Dienst“ oder einen spontanen, bei Keller erfrischend unerwarteten Test eines Hula-Hoop-Reifens. Diese Originalität im Detail verbirgt allerdings nicht durchgehend, dass die Handlung insgesamt recht vorhersehbar ausfällt: Die Irrfahrt wird zur Erkenntnisreise, Keller bekommt von verschiedenen Seiten Auskunft, was an seinem künstlerischen Credo nicht stimmt – und zeigt sich zum ersten Mal auch einsichtig. Zu dieser punktgenauen Wandlung kann man die Regisseure nicht unbedingt beglückwünschen – wohl aber zu ihrer bemerkenswert stilsicheren Inszenierung, die trotz kleinen Budgets hochprofessionell und sorgsam gestaltet wirkt.