„Obligatorischen Kainismus“: So nennt die Ornithologie den angeborenen Instinkt des zuerst geschlüpften Raubvogelkükens, das jüngere Geschwisterchen aus dem Nest zu stoßen. Es ist dies ein verhaltenstypischer Mechanismus, der auch den Ausgangspunkt für „Wie Brüder im Wind“ markiert. Kain und Abel heißen die beiden Jungvögel im Adlerhorst hoch oben in den Tiroler Alpen. So ahnt man bereits, dass Kain seinen Bruder in die Tiefe schubsen wird. Als der zwölfjährige Lukas Abel hilflos am Boden entdeckt, nimmt er ihn unter seine Fittiche, um ihn großzuziehen – eine dankbare Vorgabe für ein spannendes Drehbuch.
Schon der Filmtitel spielt auf die Analogie zwischen dem Adlerjungen und dem Menschenkind an. Wie Abel hat auch Lukas sein „Nest“ verloren. Seine Mutter starb früh, und das verfallene Haus, in dem die Familie früher glücklich lebte, dient Lukas nun als Versteck und Rückzugsort, um den Jungvogel großzuziehen. Denn mit seinem Vater spricht Lukas seit dem Tod der Mutter nicht mehr. Zudem macht dieser mit seinem Gewehr Jagd auf die Raubvögel, die seine Schafherde gefährden. So müssen sich Lukas und Abel vor dem Hintergrund der Bergwelt, die ihren ganz eigenen, archaisch-unwirtlichen Regeln folgt, gemeinsam „freifliegen“. Neben Vater und Sohn lebt hier nur noch der Förster, der aus dem Off die Ereignisse der „Brüder im Wind“ erzählt und gleichzeitig wesentlich zum Gelingen der Adleraufzucht beiträgt.
Es ist nicht ganz unproblematisch, dass „Wie Brüder im Wind“ die Tierwelt ein Stück weit vermenschlicht. Die Nachkommen der Adler werden als Prinzen tituliert, und um sie herum werden gar mehrere geradezu biblische Bilder konstruiert. Schon dokumentarische Filme wie „Die Reise der Pinguine“
(fd 37 283) oder Disneys „Schimpansen“
(fd 41 699) taten so, als herrschten in der Fauna menschliche Verhaltensweisen, obwohl es sich dabei lediglich um die Interpretation eines instinktiven tierischen Verhaltens handelt. Aber in der Gleichsetzung der Tiere mit den Menschen gewinnt der Mensch an Größe. Und wenn die Tiere diesem ähneln, kann er nicht ganz so inhuman sein, wie es manchmal den Anschein erweckt.
Sehenswert machen den Film vor allem die Bilder des heranwachsenden Vogels und seiner Flugversuche. Dazu wurde eine eigens entwickelte Minikamera am Adler befestigt, die ihn im Flug begleitet. Bis auf wenige Ausnahmen (die Adlerhorst-Szenen wurden vor einem Blue-Screen in einer Voliere gedreht) hat das Kamerateam alle Bilder in den Bergen aufgenommen – ein grandioses Alpenpanorama entfaltet sich so vor den Zuschauern. Gleichzeitig begegnet man einer unberechenbaren Natur mit Schneeverwehungen, Frühlingserwachen und heftigen Orkanböen. Das nimmt geradezu Stiftersche Ausmaße an, wenn der Sturm mitsamt Regen und Steinlawinen zur entscheidenden Konfliktbereinigung zwischen Vater und Sohn beiträgt, und die Urgewalten die Helden zum Agieren zwingt.
Mit „Wie Brüder im Wind“ beweist Regisseur Gerardo Olivares einmal mehr seine Begeisterung zum Naturdrama. Bereits in „Wolfsbrüder“
(fd 41 108) hatte er die wahre Geschichte eines Jungen erzählt, der zum Anführer eines Wolfsrudels wird, wobei der junge Manuel Camacho, der nun sehr authentisch den Lukas spielt, ebenfalls in der Hauptrolle zu sehen war. Überdies hatte der Alpenspezialist Otmar Penker schon lange vor Entwicklung der eigentlichen Story mit den ersten Aufnahmen für den Film begonnen. Das Regie-Duo ergänzt sich perfekt in ihren jeweiligen Präferenzen, woraus großes Naturkino resultiert – mit der, wie gesagt, etwas zu dick aufgetragenen Analogie zur menschlichen Psyche.