Wer trickreich ausgestaltete Märchenfilme schätzt und sich an ihren ausgesucht schönen magischen Welten erfreut, der muss bei „Reuber“ zunächst einmal heftig schlucken. Auch hier gibt es zwar einen märchenhaften Stoff mit Traumwelt und moralischer Botschaft, aber selbst die thematisch naheliegende Assoziation zu Otfried Preußlers „Räuber Hotzenplotz“ führt aufs verkehrte Gleis. Denn „Reuber“ ist vor allem pures „German Mumblecore“: ein betont unprofessioneller, mit minimalem Budget im Freundes- und Familienkreis hergestellter „Amateurfilm“, bei dem nahezu alles, selbst die Dialoge, improvisiert wurde und wie selbstgemacht aussieht – weil es das auch ist. Und weil man den nur lose vorgegebenen Handlungsfaden chronologisch gedreht hat, beginnt die Geschichte quasi daheim, in der eigenen Privatwohnung. Kein Feenstaub, kein magischer Glanz, kein geheimnisvolles Zeitfenster erwarten einen dort, nur der normale, gänzlich unromantische Alltag einer gefrusteten Durchschnittsfamilie, die sich nicht an die Regeln des familiären Umgangs hält, sondern sich anblafft, ohne sich zuzuhören. Sohn Robby hat Geburtstag, kommt aber viel zu spät zur Feier, die von seiner allein erziehenden Mutter Franziska vorbereitet wurde. Als er mit Vater Rüdiger und Onkel Stefan endlich in die Wohnung einfällt, ist die Stimmung gereizt; eigentlich geht gar nichts mehr.
Am Ende des Tages bleibt immerhin die Gutenachtgeschichte für Robby, die ihm der Vater erzählt, bevor er wieder davonzieht. Nicht zum ersten Mal wünscht sich der Junge die Geschichte von Robby Reuber, und während er zuhört und langsam in den Dämmerschlaf verfällt, nimmt die Geschichte filmisch Gestalt an. So erlebt man mit, wie Robby auf seine jüngere Schwester aufpassen soll, wie er sie vor einem Supermarkt „parkt“, wo sie entführt wird, und wie Robby voller Angst, seinen Fehler einzugestehen, in einen Wald flieht, um dort in die Räuberlehre zu gehen. Zunächst trifft er auf einen seltsam exzentrischen Zauberer, der ihn umschmeichelt und verführt, um ihm seine Kindheit zu stehlen, dann auch auf den Räuber höchstpersönlich, der kraftprotzend durchs Unterholz tobt und Robby tatsächlich in die Lehre nimmt. So lernt Robby nicht nur das Anschleichen und Ausrauben, sondern auch, seine Sorgen hinauszubrüllen und tatkräftig zu handeln, was ihn zwar nicht vor dem Körpertausch mit dem intriganten Zauberer beschützt, am Ende aber doch alles gut werden lässt – denn der Räuber ist eigentlich Robbys Vater, der zwar nicht fürs Familienleben taugt, aber doch eine liebende und verlässliche Bezugsfigur ist. Womit sich der Kreis zur „realen“ Geschichte schließt: Der wahre Robby ist am Ende des Tages geborgen und zufrieden, nimmt seine Eltern so, wie sie sind, während sie ihm ihre Zuneigung und Solidarität bezeugen.
Dieses gute, durchaus sympathische Ende muss man sich als Zuschauer aber genauso erarbeiten, wie es sich Robby erkämpft hat. Vor allem der harsche Beginn des Films kann jüngeren Zuschauern als recht grob, womöglich sogar aggressiv erscheinen, doch die anarchische, völlig verrückte „Räuberpistole“, die sich dann aus der Märchenerzählung des Vaters entwickelt, erweist sich als nicht nur originelle, sondern auch als tragfähige Brücke. Bei allem anarchischen Übermut kommt die gänzlich improvisierte Inszenierung dem Jungen und seiner Befindlichkeit zunehmend näher, sein Abenteuer wird nachvollziehbar.
So etwas wie Dramaturgie sucht man freilich bis zum Ende vergeblich; auch die vielen Klavierklänge nach Bach, Mozart, Schubert und Händel signalisieren eher renitente Widerborstigkeit als Seriosität. Doch spätestens wenn Robbys alte Oma als sphärische Elfe durch den Wald tanzt und ein Streicher-Ensemble mitten im Räubernest musiziert, kann man Gefallen an dem Ganzen finden – weil es einmal nicht die süßliche Seite des Märchenfilms herauskehrt, sondern frech und derb, unbekümmert und gänzlich ausgelassen die vertrauten Versatzstücke neu zusammenfügt.