Was steht der Liebe heute noch im Weg? Viele Schlachten liegen hinter ihr. Familie, Herkunft, Nation, Tradition, Geld, Hautfarbe, Kultur, Religion, Alter, Geschlecht – zumindest in nordamerikanischen Großstädten muss all dies kein Hindernis mehr für eine glückliche Paarbildung sein. Was dennoch stört, zeigt im Kino momentan keiner so frisch, ungezwungen und ungestüm wie das kanadische „Regiewunder“ Xavier Dolan.
23 Jahre jung, gutaussehend, talentiert, selbstbewusst, präsentierte Dolan 2012 auch seinen dritten Film in Cannes, wie auch die beiden davor. Inzwischen ist Dolan 24 und fast mit Film Nummer vier fertig. Angesichts dieses Schaffensdrangs wirkt die Ankunft von „Laurence Anyways“ in den deutschen Kinos verspätet, aber das tut der Qualität dieses zeitlos-aktuellen Films keinen Abbruch. „Mein Film ist eine Hommage an die ultimative Liebesgeschichte“, sagt Dolan, „voller Ambitionen, unmöglich, eine Liebe, die spektakulär und grenzenlos sein soll.“
Genau so gestaltet sich die Beziehung von Laurence und seiner Freundin Fred, gespielt vom minimalistischen Melvil Poupaud und der überschäumenden Suzanne Clément, herausragend vereint als Paar im Wechselbad der Gefühle. Unzertrennlich tollen sie durch das Montreal der 1990er-Jahre, bis Laurence an seinem 30. Geburtstag seiner Geliebten ein Geständnis macht: Er will eine Frau werden – und mit Fred zusammenbleiben. Wie soll das funktionieren? Das, was Fred an Laurence liebt, hasst er an sich. Sie raufen sich zusammen. Schließlich ist Liebe im Spiel.
„Unmöglich“ lautet jedoch der Begriff, der durch alle Werke Dolans mäandert, obwohl in ihnen einiges möglich ist. Homosexualität etwa ist so normal, dass sie einfach nur da ist. Aber schon im kraftvollen Debüt „I Killed My Mother“
(fd 39 767) bleibt die zentrale Beziehung, die zwischen einem Teenager und seiner Mutter, verkorkst – trotz Wiederannäherung, Auseinandersetzung, Reflexion. In „Herzensbrecher“
(fd 40 262) buhlen die „besten Freunde“ Francis und Marie um denselben blondgelockten Schönling. Sie sind allerdings mehr in die romantische Liebe verliebt, als in eine reale Person; ihre Sehnsüchte und Träume sind zu groß für die Wirklichkeit.
In „Laurence Anyways“ sind Dolans Figuren nun erwachsen geworden. Ihr Streben nach Liebe hat sich in einer Person materialisieren können. Es ist allerdings nicht unbedingt Freds Geschlechtsumwandlung, die zum Verhängnis wird, sondern was in der Folge auf das Paar einstürzt – ein Mahlstrom aus widerstreitenden Gefühlen, Identitätsfragen, Ablehnung, Enttäuschungen, Kommentaren, Gewalt, neuen Freunden, neuen Feinden.
Um das zu inszenieren, nimmt sich Dolan Zeit: In zwei Stunden und 39 Minuten erzählt er von elf Jahren Anziehung und Abstoßung – ein Reigen aus Überschwang, Geschrei, Schweigen, Komik, Tragik, modischen Veränderungen, exzentrischen Frisuren, gegensätzlichen Landschaften, Zeitlupen und unterschiedlichsten Musiken. Wie immer in seinen Filmen scheut Dolan sich nicht, große Gefühle in knallige Regiegesten zu übersetzen. Und so gerät auch „Laurence Anyways“ zu einer teils mit Verehrung, teils mit geschicktem ironischen Bruch vorgetragenen Jonglage mit den Bildsprachen von Meistern wie Wong Kar-wai oder Pedro Almodóvar und der pulsierenden Welt der Musikvideos.
Das Kunststück gelingt. Aus der Bildgewalt stechen, still und bohrend, Blicke hervor: liebende, verletzte, abschätzende, verachtende. In der Frage, wer hier wie auf wen blickt, spiegelt sich die Tragik der Geschichte und die Kritik an einer Gesellschaft, die Laurence und Fred das Zusammenbleiben zusätzlich erschwert. Das ist Kino, in das man sich verlieben kann.