Die Geschichte führt zurück zum Dal See im Hochgebirge von Kashmir. Ein junger Arzt mit einer zu großen Nase kommt nach jahrelangem Aufenthalt in Deutschland in seine Heimat zurück. Ein muslimischer Großgrundbesitzer bittet ihn, seine Tochter zu heilen, allerdings darf er nur die erkrankte Körperregion sehen. So lernt der junge Arzt seine zukünftige Gattin kennen, in kreisrunden Ausschnitten, die in das Körper verhüllende Laken geschnitten wurde. All das erzählt mit allen bizarren Details Jahre später der Enkel des Mannes, Saleem Sinai, der selbst zur Mitternacht am 15. August 1947 geboren wurde, die Stunde der indischen Unabhängigkeit.
Als Salman Rushdies erster Roman „Mitternachtskinder“ Anfang der 1980er-Jahre auch in Deutschland erschien, verglichen Literaturkritiker die opulente Familiensaga mit Gabriel Garcias „Hundert Jahre Einsamkeit“ oder mit „Die Blechtrommel“ von Günther Grass. Rushdies Protagonist Saleem kommentiert die Ereignisse der indischen Unabhängigkeit, der Konflikte zwischen Moslems und Hindus in der Tat mit kindlich-kritischer, manchmal fast bösartiger Distanz. Im Gegensatz zu Oskar Matzerath ist sein Manko kein körperliches Gebrechen, sondern eine erschwindelte Herkunft. Eine Babyschwester vertauschte in einem unbeobachteten Moment die beiden Neugeborenen, den unehelichen Sohn einer armen Hindu und den Sohn einer reichen islamischen Familie: Shiva, der Sproß aus wohlhabendem Haus, wächst bei einem armseligen Spielmann und Tagelöhner auf, während Saleem der Sproß besitzloser Eltern im bequemen Reichtum groß wird. Aber das sind nicht die einzigen überraschenden Schicksalswendungen in der opulenten Saga. Wie alle Kinder, die in der Stunde der indischen Unabhängigkeit geboren wurden, besitzt Saleem die Gabe, die Gedanken anderer Menschen zu lesen; er vermag aber auch die anderen „Mitternachtskinder“ zusammenzurufen. Schnell wird aber auch eine Konkurrenz mit dem wesentlich brutaleren Shiva deutlich, die das Leben beider bis über die Jugend hinaus beeinflusst.
Die kanadisch-indische Regisseurin Deepa Mehta hat den Roman verfilmt. Das Drehbuch stammt von Salman Rushdie selbst, der die Essenz seines voluminösen Werkes in einen fast zweieinhalbstündigen Film übertragen hat. Die Handlungsstränge sind dabei etwas gestrafft worden. Manches wunderbar blumige, nahezu surreale Detail, insbesondere die bizarr-hässliche physische Erscheinung mancher Mitternachtskinder, fiel der Adaption zum Opfer. Am Ende steht ein Film, der den Zuschauer ganz in seinen Bann zieht.
„Mitternachtskinder“ ist eine facettenreiche Familiensaga, ein opulenter Bilderbogen mit skurrilem Humor, bei dem die Schicksale der Protagonisten entweder parallel zu den entscheidenden Wendepunkten und Katastrohen der indischen Geschichte verlaufen oder mit ihnen kollidieren – vom Ende der Kolonialherrschaft bis zur Abspaltung Pakistans und Bangladeshs. Saleem und Shiva sind in die kriegerischen Auseinandersetzungen, aber auch in die brutalen Säuberungen Indira Ghandis in den Slums von Bombay involviert. Immer wieder wechseln die Schauplätze und Perspektiven, von der wohlhabenden islamischen Oberschicht hin zu hinduistischen Elendsmilieus. Der Film erzählt so von den verschiedenen Schichten der indischen Gesellschaft, aber auch davon, dass der soziale Status kein biologisches Schicksal, sondern ein ganz unsicherer Zustand ist, der von Zufällen bestimmt wird. Wie der Roman lebt auch der Film von der Abfolge bizarrer Episoden, die sich aus dem Zusammenstoß und dem Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen und Mentalitäten ergeben, aber auch von der Dynamik seltsamer Charaktere und Familiengeschichten, bei denen es um leibliche und wirklichen Vätern. Am Ende steht Saleem mit einem Sohn in der Welt, der nicht sein leiblicher ist.
Indien, das zeigt dieser opulente Film, ist eine Mischung seiner unterschiedlichen Kinder, der legitimen wie illegitimen, der schönen wie der häßlichen, der Erfolgreichen und Erfolglosen. „Mitternachtskinder“ ist eine beeindruckende Mischung aus Zufall, Schicksal und magischem Realismus, ein skurriles Familiendrama und bewegendes Porträt des indischen Subkontinents und überdies eine kongeniale Adaption eines großen Romans.