- | Deutschland/Frankreich/Schweiz 2011 | 91 Minuten

Regie: Emily Atef

Eine junge Frau hat seit dem Unfalltod des Bruders ihren Lebenswillen verloren, will Selbstmord begehen, kann sich aber nicht zum letzten Schritt durchringen. Als ein aus der Haft entwichener Sträfling sie überfällt, bietet sie ihm Hilfe bei der Flucht an, wenn er sie dafür tötet. Beide machen sich auf den Weg nach Marseille, von wo aus der Sträfling nach Afrika übersetzen will. Ein in seinen Wendungen etwas zu vorhersehbares, gleichwohl sehr klug inszeniertes Road Movie mit ausdrucksstarker Bildsprache und guten Darstellern, dessen Protagonisten die Angst vor Nähe und vor dem Leben verbindet. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
TUE-MOI
Produktionsland
Deutschland/Frankreich/Schweiz
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
NiKo Film/Wüste Film West/Ciné Sud/Vandertastic Film/Hugofilm Prod.
Regie
Emily Atef
Buch
Emily Atef · Esther Bernstorff
Kamera
Stéphane Kuthy
Musik
Cyril Atef
Schnitt
Beatrice Babin
Darsteller
Maria Dragus (Adele) · Roeland Wiesnekker (Timo) · Wolfram Koch (Julius) · Christine Citti (Claudine) · Anne Bennent (Adeles Mutter)
Länge
91 Minuten
Kinostart
05.07.2012
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Lighthouse (16:9, 2.35:1, DD2.0 dt.)
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Diskussion
Wolken, eine steil abfallende Felswand, darunter ein Wald, von dem nur die Baumwipfel zu sehen sind, durchzogen von Nebelschwaden. „Töte mich“ eröffnet mit einem romantischen Panorama. Es bleibt genug Zeit, um in jedes Detail einzutauchen und so genau hinzusehen, dass man nach einigen langen Sekunden den kleinen Menschenkörper auf der linken Bildseite erkennt. Er verschwindet fast im Braun-Grau des riesigen Felsens, doch dann bemerkt man, dass er aufrecht steht, ganz nahe am Abgrund. Die nächste Einstellung zeigt ihn viel näher und von der Seite. Ein Mädchen, vielleicht 15, 16 Jahre alt, steht da und blickt hinunter. Warum es das tut, ist gar keine Frage: Man spürt sofort, dass es mit dem Gedanken spielt, zu springen. Der existenzielle Ernst dieser Eröffnungssequenz schwebt über dem dritten Film von Emily Atef, die nach „Molly’s Way“ (2005) und „Das Fremde in mir“ (fd 38 937) als eine der interessantesten deutschen Regisseurinnen ihrer Generation gelten kann. Im Zentrum steht zunächst jenes Mädchen namens Adele. Die Vorhänge und die Küchenlampe, die Gesichter und die Redeweise ihrer Familie erzählen nicht weniger über sie und ihre beengten Lebensumstände, als die Tatsache, dass sie es ein paar Stunden zuvor doch nicht geschafft hat, in den Tod zu springen. Adele arbeitet auf dem Hof ihrer Eltern, das Leben ist nicht leicht und der Befehlston des Vaters hart, doch der Grund ihrer Zurückgezogenheit und seelischen Krise liegt woanders: Seit dem Unfalltod ihres Bruders und jener Zeit, in der sie selbst im Koma lag, findet sie sich nicht mehr zurecht; sie ist ohne Anschluss im Leben, erfüllt von großer Traurigkeit. Wenige Filmminuten später folgt der nächste Schock: Ein Eindringling überfällt sie in ihrem Zimmer. Er heißt Timo und ist ein flüchtiger Sträfling, der seinen Vater getötet haben soll. Nach kurzem Schrecken schlägt sich Adele auf seine Seite, versteckt ihn zunächst, hilft ihm dann zur Flucht, fordert aber eine Gegenleistung: „Töte mich“ Es ist nicht wenig verlangt, diese Kehrtwendung Adeles und damit die zentrale Konstruktion zu akzeptieren; zu glauben, dass ein Teenager aus suizidaler Absicht einen solchen Pakt schließt, und noch mehr, dass ein grobschlächtiger, scheinbar primitiver Mann sich auf diesen Handel einlässt. Andererseits bleibt beiden auch gar keine andere Möglichkeit. Das jeweilige Gegenüber erscheint als Rettung aus der persönlichen Misere. Hat man diese Ausgangslage einmal akzeptiert, dann ergibt sich vieles in diesem Film wie von selbst, dann wird alles klarer und leichter, je weiter der Film fortschreitet. „Töte mich“ ist ein ungewöhnliches Road Movie, das die Flucht von Timo und Adele nach Marseille beschreibt. Dabei kommt es zur Annäherung zwischen den beiden ungewöhnlichen, so gegensätzlichen Getriebenen. Nicht zu einem Liebesverhältnis, dazu sind beide zu verstockt und zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Aber das Mädchen und der Sträfling öffnen sich einander und damit auch für die Welt. Die Reise, die sie durch zum Teil atemberaubend schöne, oft ungewöhnliche Naturlandschaften führt, wandelt sich dabei zur Tour de Force der Leidenschaften und Gefühle: Anfangs überwiegt Misstrauen. Timo ist derart verschlossen und in sich gekehrt, dass er mit der Nähe eines anderen Menschen, erst recht einer Frau, kaum zurechtkommt. Sein Ziel ist vage: Er will ein neues Leben „in Afrika“ beginnen, wofür er von seinem Bruder in Marseille Geld erpressen will. Adele wiederum scheint glücklicher und offener, je näher sie sich Marseille und damit ihrem Lebensende glaubt. Es gehört zu den kleinen Schwächen dieses gelungenen Films, dass die echten Überraschungen ausbleiben. Atefs Figurenzeichnung ist überzeugend. Mitunter greift sie aber zu sehr auf Psychologie zurück, verlegt sich auf Erklärungen, die gar nicht nötig wären und im Hinweis auf Traumata und Kindheitserfahrungen fast etwas Banales haben. Mehr als einmal kommt einem Jean Cocteaus „Es war einmal“ („La belle et la bête“; fd 22 613) in den Sinn, so ungleich ist dieses Paar. Aber das Ungleiche entwickelt zu wenig Dynamik. Viel passiert in diesem Film durch Gesten und kleine mimische Andeutungen in den Gesichtern der Hauptdarsteller Maria Dragus und Roeland Wiesnekker. Wenig wird ausgesprochen. Das zentrale Motiv ist Angst vor Nähe. Die tiefere, universale Dimension ist die Angst vor dem Leben. Die mag zwar jeder kennen, doch sie anzunehmen und von den Figuren auf sich selbst zu schließen, ist viel verlangt. Mehr als ausgeglichen wird dies durch eine dichte, über weite Strecken kluge Regie. Der große Reiz des Films liegt neben der Leistung der Darsteller vor allem in der Kamera von Stéphane Kuthy und dessen Bildern einer rauen Natur, mit der die Menschen immer wieder eins werden.
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