Das spurlose Verschwinden seiner Frau, die nach einem Streit die Wohnung verließ, wirft einen treusorgenden Familienvater aus Paris aus der Bahn. Zwanghafte Überreaktionen und Lethargie sind die Folgen. Als er ein Jahr später an der Küste einen Neuanfang wagt, wird er von seiner Vergangenheit eingeholt. Vom Sujet her ein Kriminalfilm, verdichtet sich die Handlung zu einer beklemmenden Studie über die Macht der Ungewissheit, die das alltägliche Leben überschattet. In der Hauptrolle grandios gespielt, weiß sich der Film allen Genrekonventionen selbstbewusst zu widersetzen.
- Sehenswert ab 16.
Des vents contraires
- | Frankreich/Belgien 2011 | 91 Minuten
Regie: Jalil Lespert
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Filmdaten
- Originaltitel
- DES VENTS CONTRAIRES
- Produktionsland
- Frankreich/Belgien
- Produktionsjahr
- 2011
- Produktionsfirma
- Wy Prod./Direct Cinéma/Artémis Prod.
- Regie
- Jalil Lespert
- Buch
- Olivier Adam · Marion Laine · Jalil Lespert
- Kamera
- Josée Deshaies
- Musik
- David Moreau · DJ Pone
- Schnitt
- Monica Coleman
- Darsteller
- Benoît Magimel (Paul) · Audrey Tautou (Sarah) · Isabelle Carré (Josée Combe) · Antoine Duléry (Alex) · Marie-Ange Casta (Justine)
- Länge
- 91 Minuten
- Kinostart
- 14.06.2012
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Und dann kehrt Sarah eines Abends nicht nach Hause zurück. Zunächst reagiert Paul gelassen: Schließlich hat man sich gestritten, und da kann eine kurze Auszeit durchaus sinnvoll sein. Es ist ja auch ein bisschen viel: die beiden Kinder, Sarahs Job als Ärztin, Pauls unfertiger Roman. Doch als Sarah nach Mitternacht noch immer nicht da ist, wird Paul unruhig, beginnt, sie zu suchen. Er ruft im Krankenhaus und bei ihrer Freundin an. Niemand weiß etwas, und Sarahs Handy klingelt ins Leere. Später geht Paul in eine Disco: tanzen, trinken, Abstand gewinnen. Er ist launisch, pöbelt herum, verstrickt sich in eine Schlägerei: Was tut ein Mann nicht, wenn die Nerven blank liegen, sein Glück abhanden zu kommen droht?
Großartig spielt Benoît Magimel diesen Paul, der mit Nachname so hübsch mehrdeutig „Anderen“ heißt. Er ist einnehmend, charmant, viril, zugleich sensibel und fragil; vielleicht ist „luzide“ der beste Begriff, um diesen Schwindel erregenden Tanz auf dem Gipfel der Emotionen zu beschreiben, den Magimel in Jalil Lesperts zweitem langen, nach einem Bestseller-Roman von Olivier Adam gedrehten Spielfilm hinlegt. Vom Sujet her ist „Des vents contraires“ eigentlich ein Krimi. Doch der Fokus liegt anderswo. Nicht auf Ermittler, Täter, Opfer und Fall, sondern auf dem Schicksal der, wie man so ganz falsch sagt, „am Rande Betroffenen“, welche letztlich die in Herz und Seele wirklich Getroffenen sind. Die Zurückgebliebenen – Lebenspartner, Kinder, Familie –, die sich nach Sarahs spurlosem Verschwinden im Leben zurechtfinden müssen, ohne zu wissen, was wirklich geschah.
Lange lässt „Des vents contraires“ alles in der Schwebe. Alles scheint möglich: Ein Unglück, eine Gewalttat, ein mutwilliges Davonlaufen. Magimel fühlt sich grandios in diese Rolle ein. Explodiert bald, bricht dann wieder zusammen, fällt der Lethargie anheim. Paul ist seinen Kindern ein guter Vater, er ist ein aufrechter Kerl mit gutem Herz; gerät dennoch aus dem Gleichgewicht, stößt immer wieder an seine Grenzen und tut bisweilen Dinge, die er besser lassen würde. Die ruppige Affäre mit einer blutjungen Fahrschülerin etwa. Auch den entwichenen Häftling mit seinem entführten Söhnchen ließe Paul besser nicht bei sich übernachten. Lespert erzählt chronologisch, aber mit großen Ellipsen und kühnen Zeitsprüngen. Mehr als ein Jahr überspringt er nach Sarahs anfangs beschriebenem Verschwinden und setzt mit der Erzählung erst wieder ein, als Paul mit seinen Kindern Paris verlässt und nach Saint Malo zieht, um in der Firma seines Bruders einen Job als Hilfsfahrlehrer anzutreten. Ein neues Leben will er beginnen, wird von der Vergangenheit aber immer wieder eingeholt. Nicht nur, weil ihm Sarah bisweilen im Traum, in der Fantasie erscheint, sondern auch, weil die Kinder da sind und nach ihrer Mutter fragen. Und weil eines Tages die Polizei vor seiner Tür steht.
Von Verlust, Trauer und (seelischem) Überlebenskampf erzählt „Des vents contraires“ und schreibt sich somit in einen kleinen, aber feinen Kanon französischer Filme ein, die – wie Guillaime Canets „Kleine wahre Lügen“ (fd 40 539) und François Ozons „Unter dem Sand“ (fd 35 132) – eindrücklich und berührend von den schattigen Seiten des Seins erzählen.
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