Dokumentarfilm | Deutschland/Israel 2011 | 97 Minuten

Regie: Arnon Goldfinger

Der Filmemacher dokumentiert die Auflösung der Wohnung seiner verstorbenen Großmutter, einer deutschen Jüdin, die 1935 mit ihrem Mann nach Israel emigrierte. Unter den Dokumenten findet sich ein Foto, das auf die Spur einer befremdlichen Freundschaft führt. Offensichtlich waren die Großmutter und ihr Mann mit einem deutschen Ehepaar befreundet; der Mann war SS-Mitglied und Leiter des NS-Judenreferats. Als Protagonist seiner eigenen Recherche spürt der Filmemacher der irritierenden Freundschaft nach, wobei er geschickt mit Spannungsbögen arbeitet und eine ungewöhnliche Facette des Umgangs mit dem Holocaust beleuchtet. Ein bewegendes Dokument des Schweigens von Tätern und Opfern. (Teils O.m.d.U.) - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
HA-DIRA
Produktionsland
Deutschland/Israel
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
zero one film/Arnon Goldfinger/ZDF/SWR/NOga Communications - Channel 8/ARTE
Regie
Arnon Goldfinger
Buch
Arnon Goldfinger
Kamera
Philippe Bellaïche · Talia Galon
Musik
Yoni Rechter
Schnitt
Tali Halter Shenkar
Länge
97 Minuten
Kinostart
14.06.2012
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Gerda Tuchler ist im biblischen Alter von 98 Jahren sanft entschlafen. Mehr als 70 Jahre hat sie in ein und derselben Wohnung in Tel Aviv gelebt. Zunächst mit ihrem Gatten Kurt, nach dessen Tod allein. Nach ihrem Ableben muss nun getan werden, was in solchen Fällen zu tun ist. Die Angehörigen treffen sich in der Wohnung, um den Hausstand aufzulösen. Unter ihnen der Enkel der Verstorbenen, der Filmemacher Arnon Goldfinger, der seine Kamera mitgebracht hat, mit der er die Erinnerung an die Wohnung festhalten will, in der er als Kind bei Besuchen seiner Oma viel Zeit verbracht hat. Man stöbert durch die zahlreichen Habseligkeiten, staunt über eine Unzahl von Koffern, amüsiert sich über alte Pelze und sonstigen Krimskrams und registriert, dass sich in der umfangreichen Bibliothek ausschließlich deutsche Bücher befinden. 1935 aus Berlin emigriert, hat Gerda Tuchler nie Hebräisch gelernt, sondern ist zeitlebens eine deutsche Jüdin in Israel geblieben. Mit ihrem Enkel Arnon konnte sie sich nur auf Englisch verständigen. Die Wohnungsauflösung vollzieht sich in gelöster Stimmung, bis man auf Fotos stößt, die die Verstorbene und ihren Mann im Urlaub mit einem deutschen Ehepaar zeigen. Einige der Bilder wurden offensichtlich nach Kriegsende in der BRD aufgenommen. Niemand in der Familie hat etwas von einer solchen Beziehung gewusst. Auch Gerdas Tochter, die Mutter des Filmemachers, zeigt sich erstaunt. Später findet man unter den Hinterlassenschaften Briefe mit dem Absender „von Mildenstein“, die offensichtlich von dem deutschen Paar stammen. Neugierig geworden, beginnt Arnon Goldfinger zu recherchieren und ist entsetzt. Seine jüdischen Großeltern pflegten offensichtlich auch nach dem Holocaust weiterhin freundschaftlichen Kontakt mit Leopold von Mildenstein, den sie aus Berlin kannten. Ein SS-Mann, der Leiter des NS-Judenreferats und vorübergehend Adolf Eichmanns Vorgesetzter war! Haben Kurt und Gerda etwa ein Doppelleben geführt? Warum haben sie nie etwas über ihre deutschen Freunde oder über die Kriegszeit erzählt? Warum hat niemand aus der Familie je nachgefragt? Ausgehend von diesen Irritationen begibt sich Arnon Goldfinger mit der Kamera auf Spurensuche. Die Dokumentation dieser fünf Jahre dauernden Recherchen, die nicht zuletzt eine Suche nach Goldfingers eigenen Wurzeln sind, ist spannend wie ein Kriminalfilm. In mühsamer Detektivarbeit werden da immer mehr Puzzleteile eines Rätsels zusammengefügt, das auch am Ende keine wirkliche Lösung im Sinne einer stimmigen Erklärung findet. Dabei wird Goldfinger zunehmend zur tragenden Figur seines Films. Man sieht ihn in Archiven stöbern und Gespräche mit Freunden der Verstorbenen führen, während er aus der Perspektive des Ich-Erzählers (in der deutsch synchronisierten Fassung wunderbar gesprochen von Axel Milberg) sein Tun kommentiert. Anfangs vielfach noch mit ironischen Zwischentönen, später mit zunehmender Ratlosigkeit. Dass Aron Goldfinger auch in der Fiktion zuhause ist, macht die spielfilmartige Dramaturgie der Dokumentation deutlich, die in souveräner Montage immer wieder mit klassischen Spannungsbögen aufwarten. Wenn der Filmemacher beispielsweise in Begleitung seiner Mutter bei der überaus zuvorkommenden Tochter von Mildensteins in deren Garten in Wuppertal steht und ahnt, dass er die NS-Vergangenheit ihres Vater besser kennt als sie (oder behauptet sie das nur?), aber nicht weiß, ob und wie er es ihr sagen soll, ist die (An-)Spannung nahezu physisch greifbar. So ist „Die Wohnung“ einerseits ein sehr persönlicher Film über eine Familiengeschichte im Kontext des Holocausts, andererseits aber auch ein bewegendes Dokument über das Schweigen der Nachkriegszeit. Auf Seiten der Täter, aber auch auf Seiten der Opfer.
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