Wintertochter

Jugendfilm | Deutschland/Polen 2011 | 96 Minuten

Regie: Johannes Schmid

Ein zwölfjähriges Mädchen aus Berlin erfährt zu Weihnachten, dass sein leiblicher Vater ein russischer Seemann ist. Da dessen Schiff aktuell vor Stettin ankert, will es ihn kennen lernen und macht sich in Begleitung einer wortkargen Nachbarin auf den Weg, wobei sich die alte Frau ihrer verdrängten Vergangenheit stellen muss, die von Flucht und Vertreibung im Zweiten Weltkrieg belastet ist. Ein stimmungsvoller, vorzüglich gespielter, ebenso poetischer wie spannender Familienfilm, der beschreibt, wie Kinder, aber auch Erwachsene mit Verlust und Lebenslügen umzugehen lernen und diese Herausforderung auf ihre je eigene Weise annehmen. - Sehenswert ab 10.
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Filmdaten

Originaltitel
ZIMOWY OJCIEC
Produktionsland
Deutschland/Polen
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
schlicht und ergreifend Film/Pokromski Studio/RBB/MDR/BR/NDR/SWR
Regie
Johannes Schmid
Buch
Michaela Hinnenthal · Thomas Schmid
Kamera
Michael Bertl
Musik
Michael Heilrath · Katrin Mickiewicz
Schnitt
Thomas Kohler
Darsteller
Nina Monka (Kattaka) · Ursula Werner (Lene) · Leon Seidel (Knäcke) · Dominik Nowak (Waldek) · Merab Ninidze (Alexej)
Länge
96 Minuten
Kinostart
20.10.2011
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 10.
Genre
Jugendfilm | Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Indigo (16:9-2.35:1; dt., Dolby Digital 2.0/5.1)
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Diskussion
Eigentlich könnte Weihnachten so schön werden wie immer: Die zwölfjährige Kattaka ist voller Vorfreude, genießt den Schnee im Osten ihrer Heimatstadt Berlin, lebt ihren Alltag zwischen Schwimmtraining und familiärer „Nestwärme“, während sie kleine Geschenke organisiert und mit ihrem besten Freund Knäcke und der alten, wortkargen Nachbarin Lene loszieht, um auf dem Gelände einer ehemaligen russischen Kaserne einen Christbaum zu besorgen. Mutter Margarete ist hochschwanger, sodass es mit ihr und Vater Daniel fast schon ein Weihnachtsfoto zu viert werden könnte – würde in dem Moment, in dem alle auf den Selbstauslöser warten, nicht das Telefon läuten und Kattaka arglos den Hörer abnehmen. Von irgendwoher dringt eine Stimme mit russischem Akzent an ihr Ohr: Alexej möchte Margarete sprechen. Nur stockend rückt die schockierte Mutter anschließend mit der Wahrheit heraus. Alexej aus Wladiwostok arbeitet als Seemann auf Containerschiffen; nun liegt „sein“ Schiff in Stettin. Er ist Kattakas leiblicher Vater, was Margarete und Daniel ihr all die Jahre vorenthalten haben, um eine ganz „normale“ Familie zu sein. So sehr die beiden auch ihre guten Absichten beteuern: Kattaka ist geschockt und verletzt. Das impulsive Mädchen reagiert aufbrausend, auch kindlich ungerecht. Schnell reift eine Entscheidung in ihm heran: Es will seinen wahren Vater in Stettin treffen. Da Kattaka dem nun „falschen“ Vater Daniel spontane Skepsis, ja sogar Ablehnung entgegen bringt, soll Lene sie mit ihrem klapprigen Kleinbus nach Stettin fahren. Am Abend sei man wieder zurück in Berlin, verspricht Lene. Doch mit der Fahrt über eisige Autobahnen Richtung Osten beginnt eine wahre Odyssee, die Kattaka, Lene und den „blinden Passagier“ Knäcke über Stettin hinaus nach Danzig und schließlich sogar in die einsame masurische Provinz führt – denn nicht nur Kattaka sucht nach einer „Wahrheit“: Während sie intuitiv, aber doch ernsthaft und aufgewühlt an ihrer Zukunft mit zwei Vätern „arbeitet“, muss sich Lene ihrer schmerzlichen, lange verdrängten Vergangenheit stellen, die von Flucht und Vertreibung im Zweiten Weltkrieg, vom Verlust der Mutter und einer tiefen Schuld belastet ist. „Wintertochter“ ist – endlich wieder einmal! – ein ambitionierter deutscher Film für Kinder, der sich nicht den Marktgesetzen des flott erzählten, allzu oft belanglosen Family-Entertainment beugt, sondern sein junges Publikum (nach einem über Jahre hinweg sorgfältig entwickelten Originalstoff) auf eine spannende und unterhaltsame, zugleich auch vielschichtige und anspruchsvolle Reise mitnimmt. Man mag „Wintertochter“ deshalb auch gar nicht als „Kinderfilm“ bezeichnen, ist dies doch (zumindest hierzulande) ein fast schon stigmatisierender Begriff, der zur Ausgrenzung aus dem normalen Kinoalltag und zur Gettoisierung in der sonntäglichen Nachmittag-Kinoschiene führt; Regisseur Johannes Schmid („Blöde Mütze!“, fd 38 696) spricht denn auch präziser von einem „Generationenfilm“ für Jung und Alt, geht es doch darum, wie Kinder, aber auch Erwachsene lernen (können), mit verschiedenen Formen von Verlust und Lebenslügen umzugehen, wie sie diese Herausforderung auf ihre je eigene Weise annehmen und, so Schmid, den Mut zur Veränderung und zur Erweiterung der eigenen Grenzen finden. Dass dies dabei nie zum pädagogisch steifen Thesenfilm gerinnt, sich vielmehr selbstbewusst als mal anrührendes, mal komisches, ebenso poetisches wie abenteuerliches Road Movie mit kraftvoll gezeichneten (Haupt-)Figuren, fulminanten Bildern und einer dramaturgisch geschickt eingesetzten Musik entwickelt, das ist der ganz große Verdienst des Films. Wunderbar ergänzen sich dabei die Wärme und das individuelle Temperament der hervorragend interpretierten Figuren mit dem exquisiten Ambiente der winterlichen Landschaft, Impressionen polnischer Dörfer oder eisig-verschneiter Meeresküsten, wobei die mitunter atemberaubenden (nächtlichen) Bilder der gigantischen Hafenanlagen von Stettin und Danzig eine gänzlich fremde Welt nahe bringen. Schmid nutzt explizit filmische Erzählmittel, um jungen wie erwachsenen Zuschauern die Handlung in ihren emotionalen wie auch historisch-politischen Weitungen sinnlich, aber auch so animierend nahe zu bringen, dass sich daraus manches Gespräch nach dem Film entwickeln dürfte, denn viele der angeschnittenen Themen wollen (und müssen) vertieft werden. Möglicherweise mag man beklagen, dass Kattakas anfängliche Reaktion zu eindimensional und es zudem „unrealistisch“ ist, dass sie ihren Eltern keinen Zugang mehr zu sich gestattet; dramaturgisch rundet sich dieses „Manko“ freilich sehr geschickt mit der finalen Geburt des Brüderchen, wobei alle Protagonisten ihren Emotionen endlich freien Lauf lassen dürfen. Da ist es dann zwar schon Sylvester, aber Weihnachten wird einfach noch einmal so richtig nachgeholt.
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