Mitte der 1990er-Jahre beschrieb die amerikanische Medizinerin Elaine Aron das Leiden der „Highly Sensitive Persons“. Laut ihrer Untersuchung reagiert eine hochsensible Person, kurz HSP, besonders stark auf Umweltreize und ist der modernen Reizüberflutung geradezu hilflos ausgeliefert. Was man gemeinhin Schüchternheit und Lampenfieber nennt, nimmt bei angeblich 15 bis 20 Prozent der Stadtbevölkerung krankhafte Züge an und wird von den Betroffenen schamvoll verborgen – ein regelrechter Teufelskreis. Man mag Arons Diagnose als besonders dreisten Versuch abtun, einer Allianz aus Arzneimittelherstellern und Psychotherapeuten neue Absatzmärkte zu erschließen. Doch immerhin lässt sich mit Jean-Pierre Améris’ „Die anonymen Romantiker“ eine wunderschöne romantische Komödie zu den Spätfolgen des in Fachkreisen nicht unumstrittenen Krankheitsbilds zählen. Améris tut etwas Naheliegendes und lässt zwei Hochsensible aufeinander treffen, ohne dass sie einander zunächst erkennen würden. Angélique ist eine begnadete Chocolatière, die in Ohnmacht fällt, sobald sie öffentlich gelobt wird, und deswegen einen genialen Waldschrat erfindet, der angeblich ihre süßen Kreationen erschafft und für den sie lediglich die Auslieferung übernimmt. Als sie nach dem Tod eines in den Schwindel eingeweihten Händlers eine neue Anstellung sucht, trifft sie auf Jean-René, den grummeligen Chef einer in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Schokoladenmanufaktur. Jean-René reagiert panisch auf Telefonklingeln und beschränkt seine sozialen Kontakte auf ein absolutes Minimum. Sein Therapeut stellt ihm deswegen einfache Aufgaben wie „Laden Sie jemanden zum Essen ein“, wobei die Wahl natürlich auf die frisch eingestellte Angélique fällt.
Wie etliche Liebesromanzen der US-amerikanischen Screwball Comedy besteht auch „Die anonymen Romantiker“ aus einer Serie charmanter Missverständnisse. Es beginnt damit, dass Angélique glaubt, sich als Chocolatière zu bewerben, während Jean-René in Wahrheit eine neue Verkaufsleiterin sucht und die schreckhafte Frau fortan mit dem Probenkoffer die Süßigkeiten-Händler abklappern muss. Beim ersten Rendezvous läuft auch alles schief: Jean-René entschuldigt sich jede halbe Minute, um auf der Toilette heimlich das durchnässte Hemd zu wechseln, bis er bemerkt, dass er versehentlich eines mit Rüschen eingepackt hat, sich durch die Hintertür davonschleicht und Angélique auf der Rechnung sitzen lässt. Als er am nächsten Morgen seine Angestellten um sich schart, um ihnen schuldbewusst mitzuteilen, dass Angélique gekündigt habe, überrascht diese ihn damit, dass sie zur Arbeit erscheint, als wäre nichts geschehen. Offenbar haben sich hier zwei gefunden: Beider Verhalten hat etwas zutiefst Rührendes, ganz ähnlich den Pathologien in Howard Hawks’ Klassiker „Leoparden küsst man nicht“
(fd 13 905). Im Grunde könnte man die Liebe in der romantischen Komödie ebenfalls als Krankheit diagnostizieren. Erstaunlicherweise soll der turbulente Film autobiografisch sein; Jean-Pierre Améris zählt sich zu den hochsensiblen Personen und war angeblich über Monate nicht in der Lage, Benoît Poelvoorde die männliche Hauptrolle anzutragen. Gott sei Dank haben die beiden denselben Agenten, sodass die Verbindung am Ende doch noch zustande kam. Man möchte Poelvoorde in der Paarung mit Isabelle Carré nur ungern missen. So schelmisch wie er die mühsam maskierte Beklommenheit seiner Figur spielt, hat er hervorragenden Anschauungsunterricht gehabt.