Dokumentarfilm über ehemalige Stricher vom Berliner Bahnhof Zoo. Ohne die Protagonisten auf "Exempel" sozialer Probleme zu reduzieren oder den Straßenstrich zu romantisieren, gelingt ein glaubwürdig zwischen Nähe und kritischer Distanz balancierender, dabei jedes Pathos meidender Einblick in die Lebenswege der Protagonisten. Dass diese nicht mehr zur "Szene" gehören und rückblickend berichten, fördert die unaufgeregte, nachdenkliche Erzählhaltung. Visuell bietet der Film eher konventionell-sauberes Handwerk.
Die Jungs vom Bahnhof Zoo
Dokumentarfilm | Deutschland 2010 | 86 Minuten
Regie: Rosa von Praunheim
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2010
- Produktionsfirma
- Rosa von Praunheim Filmprod./RBB/NDR
- Regie
- Rosa von Praunheim
- Buch
- Rosa von Praunheim
- Kamera
- Nicolai Zörn · Lorenz Haarmann · Jens Pätzold · Dennis Pauls · Thomas Ladenburger
- Musik
- Andreas Wolter
- Schnitt
- Mike Shepard
- Länge
- 86 Minuten
- Kinostart
- 24.02.2011
- Fsk
- ab 12; f
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Diskussion
Filme über Strichjungen neigen nicht selten dazu, an ihren eigentlichen Protagonisten vorbei zu filmen. Die männlichen Prostituierten vom Straßenstrich fördern eine sensationsheischende Berichterstattung über angebliche soziale, moralische und sexuelle Abgründe ebenso wie eine oberflächliche Romantisierung, die, vor allem in Spielfilmen, Stricher zu verwegenen Abenteurern überhöht. Rosa von Praunheim tappt mit „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“ in keine dieser Klischeefallen. Stattdessen liefert er einen unaufgeregt erzählten, handwerklich sauber gearbeiteten Dokumentarfilm, der sich weniger für das Milieu interessiert als für die Menschen, die darin leben. Spätestens seit seiner viel beachteten autobiografischen „Spurensuche“ in „Meine Mütter“ (fd 38 622) hat sich herumgesprochen, dass Regiearbeiten von Praunheims längst nicht mehr automatisch provokant, schrill und im Underground-Stil gedreht sein müssen. „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“ präsentiert sich visuell als solide Fernsehproduktion, deren Kinoauswertung sich formal allerdings kaum rechtfertigen lässt. Zu deutlich wurden die sprechenden Köpfe für den Bildschirm zurecht kadriert. Wie sehr sich aber neben dem Regisseur auch die mediale Wirklichkeit in Deutschland verändert hat, belegt ein Fernsehausschnitt aus der „Abendschau“ vom 6. Juli 1965, mit dem von Praunheim seinen Film eröffnet und in dem Homosexuelle mit „asozialen Elementen“ in Verbindung gebracht und Strichjungen gar als „unverbesserliche Parasiten der Gesellschaft“ diffamiert werden.
Dass ein solcher Bericht im deutschen Fernsehen heute nicht mehr denkbar wäre, heißt freilich nicht, dass sich die Lage der Strichjungen in Berlin grundlegend verbessert hätte. Rosa von Praunheim lässt in seinem Dokumentarfilm fünf ehemalige Stricher vom Bahnhof Zoo ausführlich zu Wort kommen. Unmittelbare Einblicke in die gegenwärtige Stricherszene liefert er dagegen kaum. Von Praunheim geht es nicht darum, Prostituierte vor die Kamera zu holen, die noch immer ihrem Gewerbe nachgehen. Auf den ersten Blick mag das als Schwäche des Films erscheinen. Tatsächlich aber gewinnt er durch den zeitlichen Abstand an Tiefe: Erst im Rückblick sind die Männer in der Lage, ihr Leben auf dem Strich (selbst-)kritisch Revue passieren zu lassen. Nur so kann der Film beispielhaft der Frage nachspüren, was eigentlich aus den hübschen, jungen Kerlen wird, wenn sie zu alt sind, um ihre Körper zu verleihen.
Drei der Protagonisten sind Roma. Einer von ihnen erzählt, wie seine Eltern ihn als Kind zum Klauen schickten. Als der Vater herausfand, dass er heimlich auf den Strich ging, goss er Feuerzeugbenzin auf seinen Po und zündete es an. Ein anderer kommt aus einem kleinen, armen Dorf in Rumänien, in dem fast alle jungen Männer irgendwann in Berlin auf dem Strich landen. Von Praunheim begleitet einen davon, Ionel, in seine Heimat, darf ihn filmen, wie er mit seiner glücklich lächelnden Mutter tanzt. Aber das Thema Prostitution bleibt in diesem Dorf der Prostituierten tabu. Es sind harte Lebenswege, die von Praunheim nachzeichnet. Daniel, der im Zentrum steht, erinnert sich, wie er von seiner Mutter misshandelt wurde und die glücklichste Zeit seines Lebens in einem Heim verbrachte. Ein anderer nennt den Straßenstrich eine Art „Abenteuerland“. Daniel-Rene, der schon als Minderjähriger auf den Strich ging, erzählt, dass er seine Freier lange für eine Art Ersatzfamilie hielt. Solange, bis er volljährig wurde, sie das Interesse an ihm verloren und ihn fallen ließen. Auch diese Erfahrung lässt sich nur im Rückblick aufarbeiten. Rosa von Praunheim verbindet emotionale Nähe mit nachdenklicher Distanz. Neben den ehemaligen Strichjungen lässt er Streetworker und mit dem Regisseur Peter Kern auch einen Freier von ihren Erlebnissen berichten. So entsteht ein Film, der aufwühlt, ohne zu moralisieren, ohne zu verharmlosen und ohne unnötiges Pathos.
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