Dokumentarfilm | Irland 2008 | 82 Minuten

Regie: Nicky Gogan

Zustandsbeschreibung eines ehemaligen irischen Feriencamps, das heute als Auffanglager für Asylbewerber dient. Während einer drei Jahre dauernden Langzeitbeobachtung bauten die Filmemacher eine große Nähe zu ihren Protagonisten auf und ließen sich auf deren traumatisierende Vergangenheit ebenso ein wie auf deren Zukunftsängste. Der Dokumentarfilm besticht durch meditativ-wehmütigen Bilder, mischt sich aber auch ins Leben der Betroffenen ein, indem er Berührungsmöglichkeiten zwischen den unterschiedlichen Ethnien schafft. (O.m.d.U.) - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
SEAVIEW
Produktionsland
Irland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Still Films
Regie
Nicky Gogan · Paul Rowley
Kamera
Paul Rowley
Musik
Dennis McNulty
Schnitt
Paul Rowley
Länge
82 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Eigentlich müsste der Film der beiden Filmemacher Nicky Gogan und Paul Rowley „Mosney“ heißen, benannt nach der gleichnamigen Ferienanlage, die 1948 nördlich von Dublin errichtet wurde. Einfache irische Arbeiter sollten hier in den Genuss der Sommerfrische kommen. Die stimmige und eindrucksvolle Kamera von Rowley rückt den einstigen Talmi-Glanz der Anlage in ein fahles Licht, zeigt verrostete Gerätschaften, Lagerräume für Matratzen, ein verwaistes Küchenareal, verharrt auf verwitterten Türen, die einst im typisch irischem Bunt gestrichen waren. Bilder des stillen Verfalls, dazu die Erinnerungen ehemaliger Zeitzeugen und Mitarbeiter. Doch die Filmemacher wollen nicht in nostalgischen Erinnerungen schwelgen oder den vergangenen Glanz auferstehen lassen, sondern die Jetztzeit der verfallenden Anlage dokumentieren. Heute ist Mosney nämlich eines der größten irischen Aufnahmelager für Asylbewerber, das rund 700 Menschen aus aller Herren Länder beherbergt. Ihnen haben sich die Filmemacher während der dreijährigen Dreharbeiten nicht nur behutsam angenähert; durch die Institutionalisierung von (Arbeits-)Gruppen haben sie auch in deren Lebensalltag eingegriffen; ziemlich ungewöhnlich für ein Dokumentarfilmprojekt. In erster Linie konzentrieren sich Gogan/Rowley auf die (Lebens-)Geschichten ihrer Protagonisten, auf ihr Schicksal in den Heimatländern (Kongo, Kurdistan, Somalia, Sri Lanka, Afghanistan), die von (Bürger-)Kriegen verwüstet werden, und auf ihre weitgehend von Angst besetzte Zukunft, da niemand weiß, wie über seinen Asylantrag entschieden wird. Ein Leben in einem unwirschen Zwischenreich. Alle Interview-Partner sind zwar froh, in Sicherheit zu sein, doch die meisten hadern mit ihrem Schicksal, da der Alltag strengen Auflagen unterliegt. So ist zwar die Grundversorgung gewährleistet, weit besser als in ihren Heimatländern, doch über ein Taschengeld hinaus verfügt niemand über privates Einkommen; viele wollen arbeiten, dürfen es aber nicht, solange sie keine Aufenthaltsgenehmigung haben. Ein Dilemma, das auch aus anderen europäischen Ländern vertraut ist, durch „Seaview“ aber in pittoresken Bildern einer Binnengesellschaft eindrucksvoll eingefangen wird, deren Leben von Überwachungskameras registriert wird. Der Filmtitel sagt mit seiner zweideutigen Ironie mehr als der ursprüngliche Titel: „Seeblick“ kann Erholung sein, aber auch den Blick auf ein endloses Meer ohne Land am Horizont bedeuten – Metapher für die auf unabsehbare Zeit ungewisse Zukunft. „Seaview“ ist kein erschütternder Film, dazu ist die Situation allzu vertraut, aber einer, der berührt und für die Nöte der Menschen sensibilisiert. Zunächst als Spielfilm über Asylsuchende geplant und während der Recherchen zum Dokumentarfilmprojekt umgemünzt, verdichtet sich „Seaview“ zur Standortbestimmung eines globalen Problems. Eines Problems, das auch eine Auswirkung der englischen Kolonialpolitik ist und für das nun groteskerweise die frühere „Kolonie“ Irland mit zur Verantwortung gezogen wird. Am Ende des kommentarlosen Films, der erstaunliche Einblicke in nationale Mentalitäten gewährt und von Ansprüchen und Resignation erzählt, gleitet die elegante Kamera erneut durch leere Korridore, verwaiste Bingo-Säle und Sportstätten, verweilt in der still gelegten Großküche und blickt durch Fenster, hinter denen sich nichts mehr abspielt; dann geht das Licht aus. Eine gespenstische Bestandsaufnahme, deren Chiffren nun in einem anderen Licht erscheinen.
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