Auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Mann zieht eine junge Frau in einen hoch gesicherten Wohnblock, wo sie mit Morden, verschwindenden Personen sowie einer Art Widerstandsgruppe gegen das hermetisch geschlossene System konfrontiert wird. Konsequent gezeichneter, pessimistischer Paranoia-Thriller als Spiegelbild einer zerstörten Gesellschaft, der Fragen des modernen Lebens anschneidet. In seiner betonten Künstlichkeit verdichtet er sich zum mutigen Kino der Irritationen.
- Sehenswert.
Weiße Lilien
Thriller | Österreich/Deutschland/Luxemburg/Ungarn 2007 | 100 Minuten
Regie: Christian Frosch
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Filmdaten
- Originaltitel
- WEISSE LILIEN
- Produktionsland
- Österreich/Deutschland/Luxemburg/Ungarn
- Produktionsjahr
- 2007
- Produktionsfirma
- Amour Fou Filmrprod./Mediopolis/Minotaurus Filmprod./Eurofilm Stúdio Budapest
- Regie
- Christian Frosch
- Buch
- Christian Frosch
- Kamera
- Busso von Müller
- Musik
- Matthias Ockert
- Schnitt
- Michael Palm
- Darsteller
- Brigitte Hobmeier (Hannah Schreiber) · Martin Wuttke (Hauks) · Johanna Wokalek (Anna) · Xaver Hutter (Branco) · Erni Mangold (Frau Danneberg)
- Länge
- 100 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert.
- Genre
- Thriller
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
„Beruhigen Sie sich. Sie werden jetzt schlafen.“ Vielleicht ist alles, was jetzt folgt, ja nur ein Traum. Mystery-Atmosphäre ist von Anfang an spürbar in diesem Film, unterstützt von einer Musik wie aus einem 1970er-Jahre-Trash-Horrorklassiker. Die Kamera streicht über eine Schultafel, die mit merkwürdigen Formeln bekritzelt ist, und bleibt auf dem Gesicht von Yoon stehen, einem Mädchen, das sich offenbar – das sieht man an dem weißen Verband um ihre Handgelenke, der an einer Stelle etwas durchblutet – schon einmal die Pulsadern aufgeschnitten hat. Plötzlich fällt Yoon aus einem hohen Fenster in den Tod. In Zeitlupe zeigt die Kamera, wie sie in einem Beet aus weißen Lilien landet. Diese titelgebenden Blüten sieht man dann in Nahaufnahme, mit Blutstropfen verunziert. Es folgt ein Werbefilm: Eine unangenehm einschmeichelnde Stimme preist „Neustadt“ an, „die sichere Stadt in einer immer unsicherer werdenden Welt“. Der Film dient als clevere, nicht zu didaktisch geratene Einführung in die Sujets, die den Hintergrund von „Weiße Lilien“ bilden: Autarkie, Individualität, Solidarität. Von 50.000 Bewohnern ist darin die Rede, von einer Infrastruktur, von der andere nur träumen. Dazu sieht man etwa 20 Stock hohe Wohnblöcke, man hört von einem Sicherheitsdienst – die Realität hinter dieser allzu schönen neuen Welt lernt der Zuschauer in den nächsten Szenen kennen: „Ich hab sie im Visier“, sagt ein Mann zu einer Telefonistin im Service-Call-Center dieser scheinbar perfekten Lebenswelt. Satzfragmente erzählen von unbefugtem Aufenthalt und Wasserrationierung, und schnell ist das Panorama einer dystopischen Zukunftsgesellschaft skizziert, eine Art „Gated Community“.
Der neue Film des Österreichers Christian Frosch („Die totale Therapie“, fd 34 411) ist vieles, was es im deutschen Kino zu selten gibt: Er steht für jene Hinwendung europäischer Filmemacher „mit Kunstanspruch“ zum Genrekino. „Weiße Lilien“ ist ein stilsicherer, konsequent inszenierter Science-Fiction-Film mit Elementen eines Paranoia-Thrillers. In einer nicht genauer bezeichneten nahen Zukunft entwirft er das Szenario einer rätselhaften autoritären Gesellschaft: Die weißen, hellen Bauten von „Neustadt“ sind eine quasi-autarke „Lebensmaschinerie“ in den Vororten von Raum und Zeit. Im Zentrum steht Hannah, eine Mitarbeiterin besagten Call-Centers. Auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Gatten zieht sie in eine durch Selbstmord freigewordene Wohnung im Luxustrakt des Wohnblocks. Bald häufen sich merkwürdige Geschehnisse, und Hannah, die sich bereits zuvor dem Leben von Neustadt entfremdet fühlte, erkennt, das hier Menschen verschwinden, manche sogar ermordet wurden. Wie es in der Welt „draußen“ aussieht, bekommt man dabei gar nicht mit. Doch Hannah kommt in Kontakt mit Einzelnen – einem geheimnisvollen Detektiv, einer jungen Frau – die Widerstand leisten, womöglich einen gewalttätigen Untergrundkampf gegen die versteckte Repression der Obrigkeit führen.
Mutig und konsequent zeichnet der Thriller das Spiegelbild einer zerstörten Gesellschaft und spricht viele Fragen des modernen Lebens und der „Inneren Sicherheit“ in der Kontrollgesellschaft an. Die Kamera schafft Filmbilder von außerordentlichen Qualität. Setting und Inszenierung sind bewusst künstlich und „theaterhaft“ gehalten – ganz in einer sehr deutschen Filmtradition mit Anklängen ans Kino des Expressionismus. Ein Enselmble herausragender Darsteller komplettiert das Ganze, allen voran Johanna Wokalek, die in einem ungewöhnlichen Auftritt mit viel Charisma zeigt, was sie jenseits eng begrenzter Rollen eigentlich kann. „Weiße Lilien“ öffnet das Tor zu einer anderen Welt. Man macht Erfahrungen von der Art, um die im Kino gehen sollte, nicht zuletzt die der Irritation. Am Ende dieses exaltierten Films stehen ein Amoklauf und ein durchaus zeitgemäßes pessimistisches Fazit: Widerstand ist zwecklos, die postmoderne Mediengesellschaft frisst ihre Gegner.
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