Mädchen in Ländern, in denen man mit 14 heiratet, haben es besser, findet Anne. Dort hätten sie keine Probleme, einen Jungen zu küssen, umreißt sie ihre Probleme mit der Sexualität. Ihrer Ansicht nach hinkt sie bereits hinterher. Was nach einem weiteren Film über hormonelle Verwirrung von Teenagern, die ihre sexuellen Erfahrungen in Apfelkuchen oder Pasteten suchen, klingt, entpuppt sich als subtile filmische Studie über Gefühlsirrungen und emotionales Erwachen. „Water Lilies“ zeigt in intensiven Bildern nur die äußeren Details der körperlichen Wallungen, kommentiert das Beobachtete aber weder melodramatisch noch pädagogisch. Motivationen und Erklärungen werden über genaue Bildkompositionen der Einfühlungskraft des Zuschauers überlassen.
Mit glitzernden Badeanzügen und dem verkrampft-feuchten Lächeln in Mädchengesichtern wird man mit dem vollen „Impact“ der Künstlichkeit der Synchronschwimmerwelt konfrontiert. Aus dem Gewusel in der Umkleidekabine formiert sich im Takt des Metronoms die geometrische Ordnung der Körper, die sich auf den zweiten Blick als erschreckend kindlich erweisen. Getrimmt auf Elan, uniformierten Ausdruck und Eleganz, ordnen sich die Mädchen begeistert in die geometrischen Formationen ein. Immer wieder zeigt der Film die Körper im paradoxen Umfeld von artifiziellem, sterilem Hallenschwimmbad und feucht-erotisierender Atmosphäre. So lassen vor allem die Blicke von außen so etwas wie Gefühle erahnen: Einsam sitzt die junge Marie am Beckenrand und schaut dem rhythmischen Kunst-Spektakel zu. Nicht nur körperliche Perfektion wird versprochen, sondern auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, mit der man bei diesem Sport gleichgeschaltet wird. Ihre Freundin Anne gehört zwar dazu, will sich aber nicht so recht eingliedern: Sie ist etwas kräftig und überragt ihre Mitstreiterinnen in den schreiend neon-grünen Badeanzügen um einiges. Annes Sehnsucht richtet sich auf Schwimmkollege François, dessen Aufmerksamkeit sie wacker auf sich zu ziehen versucht. Entgegen diesem fraulichen Begehren verbindet Anne mit Marie eine spielerisch-kindliche Freundschaft. Doch auch Maries Sehnsüchte erwachen. Zunächst ist sie das kleine, schmale Mädchen mit großen Augen, das einfach nur beobachtet, dann aber beweist sie erstaunliche Hartnäckigkeit, endlich dazugehören zu wollen. So bietet sie der schönen, als „Schlampe“ verschrienen Floriane einen Deal an, der sie in den Strudel der Gefühle bringt.
Insbesondere an Marie wird die große Faszination des Films deutlich: Das schweigsame Mädchen steht exemplarisch für die ruhige, aber bewegende Erzählweise. Der Film zeigt Momente und Handlungen ganz nah an den jungen Protagonistinnen und kommt dabei mit extrem wenigen Dialogen aus. So erzählen die Bilder von der Unmöglichkeit, über die erwachenden Sehnsüchte zu sprechen. Kleine Gesten in Nahaufnahmen lenken den Blick auf die Details, die das wahre Gefühlschaos erahnen lassen. Zugleich spielt der Ton eine besondere Rolle, da er über unterschiedliche Rhythmen die unausgeglichenen Handlungen der Mädchen in ihrer Emotionalität transportiert: Wenn sich Marie von Floriane nach einer gemeinsam verbrachten, wahrscheinlich durchschwatzten Nacht verabschiedet und sie das Bild verlässt, verraten nur ihre plötzlich hektischen Schritte das Aufwogen der Gefühle – Marie kommt plötzlich zurück, um aus dem Mülleimer Florianes Essensreste zu holen. Ähnlich intensiv erzählt der Film vom Druck der Erwartungen von formierter Sexualität, die sich metaphorisch am deutlichsten im Motiv des Synchronschwimmens ausdrückt. Irgendwo zwischen dem Aufschlagen der Beine auf dem Wasser und der den Puls vorantreibenden Techno-Musik in der Disco liegen die individuellen Wünsche, die fatalerweise immer von äußeren Gegebenheiten mit getrieben werden. So versucht Floriane verzweifelt, ihrem Ruf als Schlampe gerecht zu werden, da sie ohnehin schon als solche gesehen wird. Alle drei Mädchen scheinen mit der Bürde ihrer Gefühle vollkommen allein gelassen. Erwachsene kommen kaum vor – außer in Gestalt älterer Männer, die Florianes Außenwahrnehmung als jugendliche Lolita nur bestärken. Der Debütfilm von Céline Sciamma glänzt nicht nur durch die genau beobachtende, ruhige Erzählweise, sondern vor allem auch durch die einprägsamen Schauspielerinnen, deren mutige Körperlichkeit viele Details erst möglich macht. Fesselnd etwa die Wandlungsfähigkeit von Adèle Haenel als Floriane, die zwischen der gelangweilten, arroganten, selbstbewussten Frau und dem unsicheren, albern giggelnden Mädchen changiert. Céline Sciamma versteht es, den paradoxen Rhythmus eines Lebensgefühls einzufangen, vermittelt die Unmöglichkeit der Artikulation und somit die Hilflosigkeit gegenüber den emotionalen Wallungen. Es gibt also doch ernste Alternativen zur sexuellen Exploitation von Teenagern mit Apfelkuchen.