Acht Flüchtlinge, die sich von Zentralamerika auf den 4.000 Kilometer langen Weg quer durch Mexiko gewagt haben und sich in den USA eine Zukunft erhoffen, geben Auskunft über ihr Schicksal und den bisher zurückgelegten Leidensweg. Der erschütternde Dokumentarfilm macht die Ursachen für Migration und Flüchtlingselend erfahrbar und verleiht den Schicksalen von etwa 200.000 Menschen, die sich jährlich auf dieses unsichere Wagnis einlassen, überwiegend von den mexikanischen Behörden in ihre Heimatländer abgeschoben werden, ihren letzten Besitz, ihre Gesundheit und oft auch ihr Leben verlieren, individuelle Gesichter. Dabei ergänzen sich die Aussagen der Migranten zu einem facettenreichen, grausamen, aber nie wehleidigen Bild.
- Sehenswert ab 14.
De Nadie
Dokumentarfilm | Mexiko 2005 | 80 Minuten
Regie: Tin Dirdamal
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Filmdaten
- Originaltitel
- DE NADIE
- Produktionsland
- Mexiko
- Produktionsjahr
- 2005
- Produktionsfirma
- Producciones Tranvía
- Regie
- Tin Dirdamal
- Buch
- Lizzette Arguello · Iliana Martínez
- Kamera
- Tin Dirdimal · Iliana Martínez
- Musik
- Alsonfo M. Ruibal
- Schnitt
- José Torres
- Länge
- 80 Minuten
- Kinostart
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- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Noch immer sieht man der energischen, etwa 40-jährigen Frau die Spuren des ausgestandenen Schreckens an, und auch die Scham, die Demütigung. Aber Maria ist beileibe kein Einzelfall. „Los Nadie“, das sind die Niemande, die Habenichtse auf dem Weg nach Norden in eine vermeintlich bessere Zukunft. Sie kommen aus den von Bürgerkriegen und Naturkatastrophen zerstörten Ländern Zentralamerikas, wo 56 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben. „De Nadie“ (Vom Niemand) des mexikanischen Regisseurs Tin Dirdamal zeigt eine weitgehend unbekannte Wirklichkeit: „Der Traum von Tausenden, die ihr Heim verlassen, ist, die USA zu erreichen. Ihr Albtraum, Mexiko zu durchqueren.“ So fasst ein Zwischentitel den Inhalt zusammen. 4000 Kilometer Weg müssen die „Nadie“, jene Hunderttausende, die der extremen Armut entrinnen wollen, durch Mexiko zurücklegen. Dirdamal arbeitete als freiwilliger Helfer in einem Sozialprojekt, in einer Migrantenherberge in Oriza nahe der mexikanischen Hafenstadt Vera Cruz. Hier wurde er mit unterschiedlichen Schicksalen der illegalen zentralamerikanischen Migranten konfrontiert und begann zu fragen und zu filmen – zweieinhalb Jahre lang. Der auf dem Sundance-Festival 2006 mit dem Publikumspreis ausgezeichnete Film konnte nur realisiert werden, weil Raúl Vera López, der Bischof von Saltillo im Norden Mexikos, 7.500 Dollar in das Projekt investierte.
„De Nadie“ involviert den Zuschauer in einen Prozess des Kennenlernens, enthüllt nur allmählich die grausamen Lebenserfahrungen der Protagonisten und lässt sie selbst die Hindernisse auf dem harten, oft aussichtslosen Weg in den Norden beschreiben. Dabei verzichtet er auf erklärenden oder interpretierenden Off-Kommentar, liefert Fakten nur über Zwischentitel. Unverkennbar ist die Nähe, die der Filmemacher zu den Immigranten in der Herberge gewonnen hat: Maria de Jesus Flores hatte ihr Dorf in Honduras und ihre Familie vor zwei Wochen verlassen; vier Kinder, ein kranker Ehemann und kein Auskommen, keine Perspektiven. José aus El Salvador ist von den kaum verheilten Wunden einer missglückten Bauchoperation gezeichnet, hofft auf eine neue Operation in den USA. Santos dankt Gott, dass er es zumindest bis nach Vera Cruz geschafft hat – noch nicht einmal die Hälfte des Weges. José, ein Jugendlicher aus Honduras, hat einen Arm verloren, als er unter jenen Güterzug geriet, der als „tren de la muerte“, als Todeszug, bekannt ist und der Mexiko von Süden bis in den Norden durchquert: für die meisten Immigranten die einzige Möglichkeit zur Fortbewegung. Der Zug hat nicht nur José den Arm abgerissen; immer wieder passieren Unfälle, wenn die Migranten beim Versuch, sich vor Polizei, Wegelagerern oder Bahnpersonal zu verstecken, vom Waggon fallen und überrollt werden.
„De Nadie“ lebt von der Offenheit der Gespräche, dem bitteren Humor Josés, der nach dem Verlust seines Armes auf die Abschiebung wartet, den lakonischen Kommentaren der Bahnangestellten oder der erschreckenden Erzählung Adolfos, der aus dem Versteck die Vergewaltigung und Ermordung seiner Mutter mit ansehen musste. Denn eine tödliche Gefahr sind auch die bewaffneten Banden, die den Illegalen ihre letzte Habe abnehmen, die Frauen vergewaltigen und jeden, der nur den geringsten Widerstand leistet, töten. Auch hier ergänzen sich die Aussagen der Migranten zu einem facettenreichen, grausamen, aber nie wehleidigen Bild. Nach diesen Banden ist die mexikanische Einwanderungspolizei der schlimmste Feind: Als „Diebe mit Lizenz“ bezeichnet sie ein Zwischentitel. 51 Prozent der Übergriffe werden von Mitarbeitern mexikanischer Behörden verübt, das wird dem Filmteam auch teils von Mitarbeitern staatlicher Stellen bestätigt. Angesichts ihrer schrecklichen Erlebnisse bleibt der Lebensmut der Menschen beeindruckend: Immer wieder versuchen sie, auf die Beine zu kommen, oft um noch mehr enttäuscht zu werden. Als Maria einen Job in einem scheinbar harmlosen Zirkus annimmt, kündigt sie am ersten Tag: Sie sollte nackt tanzen. Der Film lässt aber auch hoffnungsvolle Momente aufschimmern: Zu ihnen gehören die 32 Herbergen in Mexiko, in denen die Migranten umsonst übernachten und essen können, oder die Hausfrauen aus dem Dorf „La Patrona“, die seit Jahren für die Migranten kochen und ihnen das Essen auf den Zug werfen. Im letzten Kapitel geht der Film dann zurück zu den Wurzeln der Migration. Das Filmteam besucht Marias Familie in ihrem Dorf und zeigt ihnen die Videoaufnahmen aus der Herberge.
Fast 200.000 Migranten aus Zentralamerika versuchen jährlich, über Mexiko in die USA zu gelangen, 156.000 davon werden von den mexikanischen Behörden in ihre Heimatländer abgeschoben, manche verlieren ihren letzten Besitz, ihre Gesundheit, viele ihr Leben. Der Epilog zeigt, dass es den Mitwirkenden des Films nicht viel anders ergangen ist: Von den acht Interviewten gelangten zwei in die USA, von zweien fehlt jede Spur, die anderen wurden abgeschoben. „De Nadie“ ist mündliche Überlieferung im besten Sinne des Wortes, erzählt dramatische und wahrhaftige Geschichten. Mit einfachen Mitteln spiegelt der Film eine grausame Gegenwart und führt jene neoliberalistische Ideologie ad absurdum, die freien Warenverkehr fordert, aber den Menschen die Reise verbietet.
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